Tetiana Odegova-Nebogatykh

*1983 | Zaporizhzhia / UA


„When I turned 38, I wasn’t sure if I was doing enough in life. I sat down and realized I had to try art. Yes I was ashamed because I had no education. I cried before the start and started working. I somehow believed in myself.” Tetiana Odegova-Nebogatykh beschreibt hier sehr eindringlich, was in ihr vorging, als sie am 30. August 2021 mit ihren ersten Zeichnungen begann. Mit „doing enough in life“ meinte sie keineswegs einen Mangel an Fleiß oder Antrieb, sondern vielmehr die dringende Frage nach dem Richtigen und dem Relevanten.

Odegova-Nebogatykh wurde 1983 in Saporischschja in der Ukraine geboren und schloss früh mit Ausbildungen in rhythmischer Gymnastik und Studien an der Zaporizhzhia National University mit einem Master of Sports ab. Nach 10 Jahren als Tanztrainerin in einem Fitnessclub arbeitete sie als Choreografin, mittlerweile bevorzugt nur mehr mit Kindern. Um sich beruflich weiterzuentwickeln wechselte Odegova-Nebogatykh die Branchen und arbeitete als Fashion Stylistin und Art Director. Ohne einschlägige Ausbildungen musste sie sich den Wechsel in den Textil- und Modesektor erst erarbeiten und anderweitig überzeugen. Tatsächlich gelang Odegova-Nebogatykh der Quereinstieg, da sie sich schon immer mit Textilien befasst hatte und nebenbei eigene Kleidungsstücke entwarf und herstellte. Dennoch empfand sie auch diesen Bereich nach einigen Berufsjahren als oberflächlich und sinnbefreit; zumindest gemessen an ihrem ungestillten Wunsch, sich mit brisanteren Themen zu befassen – und dem Ziel, gesellschaftliche Missstände, ausgelöst durch Gewalt und patriarchale Willkür, sichtbar zu machen.

So entstanden ihre ersten Zeichnungen und textilen Installationen im Rahmen eines von ihr mitinitiierten Projektes, dass den Schutz junger Frauen vor sexuellen Übergriffen thematisieren und öffentlich machen sollte. Von Beginn an drängte sich für Odegova-Nebogatykh die Farbe Rot auf. „Red because we all have a heart that interacts with our blood“. “A heart“ sagt sie weiter „that is hardly used to wash our actions“.
Ihre ersten, mit so viel Versagensängsten belegten künstlerischen Bewegungen entfachten einen bis heute anhaltenden Schaffensdrang. Sie zeichnete fortan täglich mit digitalen Programmen auf dem Smartphone, auf Papier oder auf Slipeinlagen. Sie inszenierte sich und ihre Arbeiten in fotografischen Settings und kurzen filmischen Performances. In kürzester Zeit fand Odegova-Nebogatykh zu einer eigenständigen Formensprache - kraftvoll, streitbar und direkt. Stets rückte sie Mädchen und Frauen ins Zentrum, Schmerz, Verletzung und das demonstrative Recht auf den Schutz der Jungfräulichkeit. Sie signalisierte aber auch aufkeimende Stärke und Wehrhaftigkeit der Frau in einem chauvinistisch geprägten Umfeld. „Although in reality I am not very brave. But I have power when I paint“.

Am 24. Februar 2022, also ungefähr ein halbes Jahr nach ihren ersten künstlerischen Bewegungen, traf Odegova-Nebogatykh der russische Angriffskrieg auf ihr Land wie ein Keulenschlag. Sie erzählt, dass sie aus Furcht vor der Gewalt der Invasoren überstürzt und zunächst ohne jeden Plan aus Kharkiv über Moldavien und Rumänien Richtung Deutschland flüchtete. Mit ihren beiden Kindern nahm sie nur mit, was in einen Rucksack passte – unter anderem etwas Zeichenmaterial und einige ihrer Arbeiten. Auch während der Flucht besorgte sie sich Stifte und Kreiden, fotografierte und dokumentierte unterwegs ihre Arbeiten und veröffentlichte sie auf Instagram. Die schockierenden Nachrichten über Vergewaltigungen in den Kriegsgebieten ihrer Heimat trieb sie an, ihren Protest noch während der Flucht unablässig fortzuführen.

Natürlich erschöpfen sich Odegova-Nebogatykhs Aussagen nicht im reinen Protest, im sachlich Agitativen. Ihre Wahl der bildenden und performativen Kunst als Mittel ihrer Zwecke birgt weitaus mehr als die Illustration bloßer Moral. Odegova-Nebogatykh liebt „the ability to speak and hide at the same time“. Sie selbst schätzt in der Kunst das Mysteriöse, Goyas Ästhetik des Tragischen und, wie bei Louise Bourgeois, die Verschmelzung von Schmerz und Schönheit – „I paint for those who see beauty in pain“. Und so schafft auch Odegova-Nebogatykh immer wieder perplexe Formen von bissiger Anmut und erschütternder Eleganz. „Sex and art smell the same in the artist’s garden“, schreibt sie auf Instagram. Als Frau und Ukrainerin bezieht sie sich mit ihrer Arbeit auf sexuelle Gewalt. In ihrer Eigenschaft als Künstlerin möchte sie ihren Bildwerken aber Spielräume schaffen und sie öffnen für persönliche Sichtweisen, Empfindungen und Interpretationen.

In den meisten ihrer Arbeiten sind die Köpfe der dargestellten Frauen unkenntlich und stilisiert wie bei Piktogrammen - den nackten Körpern verleiht sie hingegen starken performativen Ausdruck: sie winden, ducken und verrenken sich, als wäre das Format auf das sie gezeichnet und gemalt wurden, kleiner als versprochen. Die Gestalten sind in Bewegung und exponiert, sie sind offen und geöffnet. Hinzu fügt sie florale Strukturen, schöne und gleichermaßen wehrhafte Dornen und Stachelungen, Geborgenheit suggerierende Einrichtungsgegenstände und lose, manchmal frei fluktuierende Körperteile wie Brüste und Genitalien. Oft sind die Körperglieder behaart, animalisch-nackt oder weiblich und wallend.

Lange bevor es zu dem Versuch einer Deutung ihrer Bildinhalte kommt, vermögen Odegova-Nebogatykhs Bildwerke durch ihre Unmittelbarkeit zu emotionalisieren. Sie schafft es in ihren Kompositionen mit feinen Mitteln Spannungen zu erzeugen. Ihre Figurationen nehmen oft Haltungen ein, die eine eigenartige Mischung aus Zwang und Anmut vermitteln. Sie bildet Szenerien ab, deren theatralische Bewegungen sowohl Angriff als auch Verteidigung zeigen könnten – oder keines von beidem, nämlich einfach nur irrationalen Tanz, Trance und Entrückung. Wie in ihren filmischen Performances konzentriert sich Odegova auch beim Malen und Zeichnen auf die Manierismen, die Deformationen des Körpers – eine Mimik ist nicht vorhanden oder erstarrt in brutaler Kälte. Ihre Figurationen trägt sie teilweise dicht, flächig und scharf konturiert auf. An anderer Stelle zeichnet sie ausgesprochen schnell, gestisch und flüchtig. Kleine kurze Strichbewegungen, „I transfer the pencil between different fingers and draw nervously“, wie sie sagt, „nervous but pleasant“.

Odegova-Nebogatykhs durchgängigstes Gestaltungsmittel ist die Farblichkeit. Mit dem alles andere als gefühlsneutralen, glimmenden Rot auf meist reinweißem Hintergrund brennen sich ihre Bilder auf die Retina. Durch ihr ausschließlich monochrome Arbeitsweise erinnern einige ihrer Arbeiten, die sie mit einer Vielzahl von Gestalten bevölkert, an narrative Schemen, wie wir sie von vorgeschichtlichen Felsmalereien kennen. Odegova spielt mit dem Archetypus, der Reduktion der gestalterischen Mittel, mit der Eintönigkeit der Farbe, der nur sehr eingeschränkten, auf das Wesentlichste begrenzten Plastizität von Raum und Körper.

Sie arbeitet immer spontan, erstellt keine Skizzen oder Vorzeichnungen. Sie sagt, sie plant nicht voraus, „immediately with paint, as I feel. I am not offended by how my creativity and technique looks in society (…) Today my body is giving me signals to perform, I am listening. Every time I think about what I am doing, new and new codes of myself appear”.
Odegova-Nebogatykh wechselt, damals wie heute, zwischen den Medien. In ihrer Mischtechnik finden sich Ölkreiden, Filzstifte, Öl- und Acrylfarben, Papier, Leinwand, Tinten und andere rote Flüssigkeiten oder eingefärbte Objets Trouvé. Sicherlich aus einem Mangel an Geld, aber auch aus einem Interesse an den einfachen Mitteln des Alltäglichen reduziert sich Odegova auf die Dinge, die ihr zur Verfügung stehen.

Ihre erste große Wertschätzung und Unterstützung für ihre künstlerische Arbeit erfuhr Tetiana Odegova-Nebogatykh durch andere Künstler*innen in Deutschland. Ihre Flucht aus der Ukraine hatte sie zwischenzeitlich in die Nähe von Düsseldorf geführt, wo sie mit ihren Kindern bei einer Familie unterkam. Sofort suchte sie in der Düsseldorfer Szene über die sozialen Medien nach Kontakten und künstlerischen Anlaufstellen. Die stellten sich auch gleich ein. Die Künstlerinnen Sophie Ullrich und Anna Maria Skroba konnten sie im Juni 2022 an die Gruppenausstellung Projekt Mayhem im Offspace ES365 vermitteln. Beide Künstlerinnen versorgten sie in der Folge mit Material, temporären Arbeitsmöglichkeiten und luden sie jeweils in ihre eigenen Ausstellungsräume zu Einzelausstellungen.

In Das Odradek zeigte Odegova-Nebogatykh am 9. Juni mit Room 13 eine Rauminstallation. Einen Monat lang hatte sie vor Ort an der Gestaltung gearbeitet und war dafür täglich 5 Stunden zwischen Unterkunft und Kunstraum unterwegs. In der komplett weiß ausgemalten Garage mischte sie ihre ersten Großformate auf Leinwand mit einer bemalten Assemblage aus Slipeinlagen und einer Einrichtung mit Kindermöbeln zu einem trügerisch hübschen Gefüge. Als Analogie zu einem weit geöffneten Muttermund montierte sie über das offene Gitterbett einen Basketballkorb, an dem anstatt einem Netz ein Ring aus herabhängenden roten Schnüren befestigt war. Dahinter eine Wandmalerei mit großen gespreizten Schenkeln. Alle Gegenstände im Raum waren ebenfalls rot bemalt. Am 9. Oktober folgte im Kunstraum Wandtarchive ihre zweite Einzelausstellung Humiliated, mit Zeichnungen und Malereien. Auch hier bekam sie Materialien zur Verfügung gestellt und hatte die Möglichkeit, den Raum vorher als Atelier zu verwenden. 

Im Dezember 2022 musste sie nach Stuttgart übersiedeln. Tetiana Odegova-Nebogatykh ist im direkten Umgang mit anderen ein stiller, scheuer und vorsichtiger, wie sie selber sagt „not very sociable“ Mensch. Ihre Kraft, Stärke und Überzeugung entlädt sich mit und in ihrer Kunst. Der Wechsel in eine neue, ohnehin fremde Umgebung kam für sie abrupt, unerwünscht, just in einer Zeit des künstlerischen Aufbruchs und erstmaligen Anerkennung. Die Verbindungen, die sie in Düsseldorf künstlerisch über Wasser gehalten haben, musste sie aufgeben.  

Odegova-Nebogatykh lebt und arbeitet gegenwärtig in Stuttgart mit ihrer Familie in schwierigen finanziellen Verhältnissen. Vor Ort konnte sie zunächst keine Knüpfpunkte in die Kunstszene herstellen. Die einzige Schnittstelle in die Kunstwelt ist gegenwärtig das Atelier 10 im entfernten Wien. Ende 2022 wandte sie sich mit ihren Arbeiten zaghaft an das Kunstprojekt. Nach einem Besuch in Stuttgart entschied sich Florian Reese Odegova-Nebogatykh trotz der räumlichen Distanz auf künstlerischer Ebene so weit als möglich mit dem Atelier 10 zu unterstützen und sich mit ihr regelmäßig auszutauschen. Seither zeigt das Projekt in seinen Ausstellungsräumen kontinuierlich eine kleine Auswahl ihrer Arbeiten.

Tetiana Odegova-Nebogatykh hat sich erst vor Kurzem der Kunst zugewandt. Sie gab alle bürgerlichen Sicherheiten auf und folgte diesem Pfad mit überwältigender Hingabe und Dringlichkeit. Ihre Darstellungen polarisieren, sie zwingen sich ungefiltert auf, sind ungeschminkt, garstig und jenseits aller Genügsamkeit. Sie stoßen ab oder gehen nachhaltig unter die Haut. Die Kuratoren des Atelier 10 beeindruckte sie mit der Intensität und Strahlkraft ihrer Zeichnungen sehr rasch. Authentizität, Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit sind für die Bewertung von Kunst sicherlich keine ausreichenden Qualitätsmerkmale. Diese Eigenschaften kommen erst zur Wirkung, wenn sie, wie bei Odegova-Nebogatykh, Hand in Hand mit so tiefsitzenden gestalterischen Qualitäten gehen. Auch Nina Ansperger, die neue künstlerische Leiterin des › Museum Gugging, sah früh ihre Zeichnungen und war schnell von ihnen eingenommen: „Sie zieht einen mit ihren kraftvollen und gleichzeitig verletzlich wirkenden, blutroten Bildern sofort in den Bann“.

Odegova-Nebogatykh erzählt, dass Flucht und Selbstbehauptung von jeher ihren Werdegang bestimmten. Dennoch rührte ihre Zuwendung zur Kunst nicht aus einer Verlegenheit, sondern aus einer Position der Stärke und Rastlosigkeit. Odegova-Nebogatykh verließ das Setting beruflich-ökonomischer Absicherung und ging das Wagnis ein, als Autodidaktin und in einem kulturell konservativen Umfeld Kunst zu machen. Feministische Kunst mit sehr spröden und unbequemen Aussagen und das auf eine reichlich untraditionelle, im klassischen Sinne, technisch unakademische Art und Weise. Durch ihre Kompromisslosigkeit musste sie zuletzt feststellen, dass sie in ihrem sozialen Umfeld verstärkt auf Befremdung und kaum mehr auf Anerkennung stößt. „Today I understand that I pay a high price to be an artist. And to be free.”

Ausstellungen
Permanent ausgestellt im Atelier 10
2023  › facelift | Atelier 10 / Wien [AT]
2022    Humiliated | Kunstraum Wandtarchive / Düsseldorf [DE]
2022    Room 13 | Das Odradek / Düsseldorf [DE]
2022    Projekt Mayhem | Offspace ES365 / Düsseldorf [DE]

Publikationen | über Tetiana Odegova-Nebogatykh
2024   Tetiana Odegova-Nebogatykh | Florian Reese / in: Raw Vision Art Magazine, Nr. 117 / englisch / John Maizels [Hrsg.] / London [UK]

Soziale Medien
Tetiana Odegova-Nebogatykh [Instagram]

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