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Geschichten aus dem Atelier 10 | von › August Staudenmayer

21.10.2024

Der übermäßige Trinkgeldgeber

Ich kenne einen, der übermäßig viel Trinkgeld gibt. Er gibt, zum Beispiel, in der Bäckerei für einen Kaffee, der 3,80 kostet, 7 Euro und sagt stimmt so. Er gibt in der Trafik für die Zeitung, die 2,50 kostet, 5 Euro und sagt stimmt so. Oder er gibt der Supermarktkassiererin, die 12 Euro 20 verlangt, 20 Euro und sagt stimmt so. Im Zug kauft er sich ein Ticket nach Salzburg und gibt statt 65 Euro 100 Euro und sagt stimmt so. Für eine 1 Euro Briefmarke auf der Post gibt er 5 Euro und sagt stimmt so. In einer öffentlichen Toilette in der Wiener Innenstadt legt er der Klofrau 20 Euro in den Teller und sagt stimmt so. Sein Lieblingsessen ist Fisch, für einen schmackhaften Fisch ist er bereit, alles zu geben. Die einen sagen, er ist verrückt, die anderen, er ist empathisch. Er wohnt jetzt in einem betreuten Wohnheim, weil er den Sinn für das richtige Maß völlig verloren hat. Zu seinem persönlichen Betreuer sagt er: „Dir gebe ich nichts, du kriegst eh alles, wenn ich sterbe.“ Er hält ihn für seinen leiblichen Bruder. Der Betreuer sagt: „Damit kann ich leben.“ Sie verstehen sich hervorragend.

21.10.2024

Künstlerkollegen

Liz piepst und quietscht, als wäre sie eine Drückpuppe. Nicht jeder darf sie drücken. Nur ausgewählte Personen. Martha ist Schenkerin, sie will alle täglich beschenken. Schoko, Kekse, Orangen, Weinbeeren. Jedes Geschenk kommt von Herzen. Wenn man sich bei ihr bedankt, sagt sie: „Aber gerne.“ Wie die Verkäuferinnen in der Bäckerei. Leider hat Martha oft Bauchweh. Was sie verschenkt, darf sie selbst nicht essen. Ute lehnt immer ab. Wenn jemand ihre Geschenke ablehnt, weint Martha fast. Helmut nimmt nichts Essbares an. Alles andere schon. Er braucht vor allem bunte kleine Teile. Alles was glänzt. Michael ist im Verkaufsrausch. Er verkauft seine Bilder, noch und nöcher. Er bedient sich einer künstlichen Intelligenz. Seine eigene und die seiner Kollegen im Atelier genügt ihm offenbar nicht. Michaels Pension wird vom Staat gekürzt, weil er so viel mit Bildern verdient. Liz quietscht und schreit unentwegt: „Ich freu mich!“ Sie zeichnet Kopffüßler, die wie die Anderen im Atelier aussehen. Ute zeigt im Aufenthaltsraum, was sie im Tanzkurs gelernt hat. Michael führt vor, wie er mit der Künstlichen Intelligenz redet. Martha packt ihren Rucksack, der größer ist als sie selbst. Der Leiter kommt aus dem Büro, blickt über die heiligen Hallen der Kunst und jubiliert: „Es ist ein schöner Ort. Möge er es noch lange bleiben.“ Helmut kommt gelaufen und ruft: „Ich muss drücken!“ Er meint damit, er muss aufs Klo. Liz hüpft vor Freude so hoch, dass ihre Haarfarbe an der Decke klebt. Michael hat seinen Anti-Geräusch-Kopfhörer aufgestockt. Er wiegt jetzt zwölfeinhalb Kilo. Ich glaube, er hört nicht einmal eine Langhantel neben sich fallen. Ein gelber Riesenrucksack – mit Martha davor – taumelt aus dem Atelier Richtung Lift. Der Lift scheint heute zu funktionieren. Sonst hätte Helmut bereits ein Wörtchen mit ihm geredet. Ute verspricht ihrer Umwelt schnurrend, dass sie am Wochenende ihren neuen Freund küssen wird. Wir werden es alle am Montag erfahren.  

21.10.2024

Der Alois

Ich verstehe den Alois nicht. Das Down Syndrom steht ihm ins Gesicht geschrieben. Ich verstehe seine Worte nicht. Seine Gefühle verstehe ich. Die sind ihm auch ins Gesicht geschrieben. Er erzählt mir irgendwas. Fünf Minuten lang. Ich höre zu. Ich entdecke ein Loch in seiner Hose. Einen Riss seitlich, die Hosennaht entlang. Etwa zehn Zentimeter. Endlich!, scheint er auszurufen, endlich siehst du das Malheur! Ich stecke zwei Sicherheitsnadeln durch den Riss, die seine Hose notdürftig zusammenhalten. Ich habe seine Hose repariert, dafür schenkt er mir ein Lächeln. Ohne Worte – ein breites Lächeln. Dabei fällt mir auf, dass er Zahnfleischbluten hat. Und zu guter Letzt fällt mir noch auf, dass er einen blauen Fingernagel hat. Sein Vater ist Steinmetz, mit eigener Werkstatt. Wahrscheinlich hat sich der Alois mit dem Hammer auf den Finger gehauen. Aber das alles tut seiner guten Laune keinen Abbruch. Hätte er keine Ohren, täte er im Kreis lachen.

11.1.2024

Seelenstriptease

Ich habe einmal zu meinem Psychotherapeuten gesagt: „So wie ich bin, das ist nur gespielt.“ Worauf der Therapeut meinte: „Vielleicht ist es gleichzeitig gespielt und echt.“ Viele Jahre später gebe ich ein Interview zu meinem neuen Buch. Der Radio-Redakteurin gelingt es, die ganze Wahrheit aus mir heraus zu locken. Ich stammele, stottere, grunze und betreibe radikalen Seelenstriptease. Das heißt, ich rede, besser gesagt, ich stammele über intimste Dinge. Ich kehre das Innerste nach außen. Ein Freund von mir, der das Interview verfolgt hat, gratuliert mir zu dieser tollen Inszenierung. Zu dieser gelungenen Performance. Aha, so ist das also, denke ich mir, wenn ich absolut echt und ehrlich bin, wirkt es gespielt.
Ich verschweige meinem Freund, dass das Ganze nicht geplant war. Ich nehme die Gratulation entgegen. Vielleicht stimmt, was mein Therapeut damals gesagt hat. Vielleicht kann man ganz ehrlich und echt sein – und es darf trotzdem gespielt wirken. Gute Schauspieler beherrschen das ja auch. Sie bringen uns zum Weinen, Fürchten und zum Lieben. Obwohl wir wissen, dass es gespielt ist.
Ich bin Zeichner. Ich zeichne, was wahr und echt ist. Trotzdem erzeuge ich „nur ein Bild“ von etwas.

Prosit Neujahr 2024 !!!

29.11.2023

Der Krampus in der Turnhalle

Auf einmal ist ER in der Turnhalle gestanden. Gerade noch haben die Kinder einen Wettlauf gemacht. Das letzte, das kleinste Kind, dreht sich um, und da steht ER in der Turnhalle. Der Krampus. Das Kind erzittert, seine Harnblase verengt sich auf Erbsengröße, es muss dringend pinkeln. Es will hinaus rennen, aber da hätte es an IHM vorbei kommen müssen.
Die Turnlehrerin befiehlt alle in die Hallenmitte.
Inzwischen haben die Eltern der Kinder die Turnhalle betreten und bleiben an der Wand stehen, um das Schauspiel zu genießen, wenn Kinder gejagt werden, vorm Krampus davon rennen und vor Angst schreien.
Der Krampus treibt mit schwingender Rute die Kinder vor sich her. Sie springen kreischend durcheinander. Der Letzte, der Kleinste, kriegt am meisten ab. Er krallt sich panikartig am Leibchen eines anderen Buben fest und reißt es ihm vom Leib. Er pinkelt sich vor Angst und Schrecken an. Die anderen Kinder zeigen auf den nassen Fleck in seiner Turnhose. Der Kleinste – das war ich. Ein Trauma war geboren. Irgendwann später habe ich erfahren, dass in dem Krampuskostüm eine Frau gesteckt ist. Hat das irgendwas erleichtert? Nein.

27.11.2023

Neulich habe ich einen Kinderwagen gesehen, der mit so einer schwarzen Verkleidung ausgeschaut hat wie ein Leichenwagen. Ich bleibe stehen, schaue hinein und – wow: Tatsächlich! Unglaublich.
So etwas gibt’s nur in Wien.

Wer wissen möchte, was ich wirklich in dem Kinderwagen entdeckt habe, der möge in das Atelier10 kommen und mich fragen oder eine E-Mail schreiben.

Unschaubar das Bild in mir, das mir eben erst vor zehn Jahren einfiel.
Die Zeit im Atelier vergeht, ob man will oder nicht.  

24.11.2023

Bazillenpause

Helmut verlangt von der Stadt Wien, dass sie eine Bazillenpause einführt. Sonst fährt er nicht mehr mit der Straßenbahn. Ihn hat ein anderer Fahrgast direkt angeniest. Jetzt hat er Angst, dass er krank wird und das Bett hüten muss.
Ich versuche ihn zu beruhigen: „Helmut, nicht jeder, der niest, ist krank. Man kann auch niesen wegen Staub oder Sonnenstrahlen.“
„Wieso wegen Sonnenstrahlen?“, fragt er mich.
„Hat dich noch nie die Sonne in der Nase gekitzelt?“
„Oh ja.“
„Na siehst du.“
Jetzt grinst er mit einem runden Gesicht. Trotzdem, sagt er, verlangt er von der Stadt Wien die Einführung von einer Bazillenpause. Wenigstens in der Straßenbahn. Ich will ihn ablenken.
„Du, Helmut, hast du gewusst, dass man beim Niesen automatisch die Augen schließt?“
Nein, hat er nicht.
„Beim nächsten Mal, wenn du niest, versuche einmal, die Augen offen zu halten. Wird  dir nicht gelingen.“
Er geht nachdenklich weg. Nach zwei Stunden kommt er wieder.
„Jetzt ist mir einiges klar!“, ruft er aus, „der Mann in der Straßenbahn hat nicht mich persönlich angeniest, der hat mich ja gar nicht gesehen!“
„Siehst du, musst keine Angst haben.“
„Aber warum ist das so?“
„Was?“
„Na, dass man die Augen nicht offen halten kann beim Niesen.“
„Ich glaube, der Körper spielt mit uns.“
Er grinst mit einem runden Gesicht. Dieses Grinsen behält er den ganzen Tag im Atelier. Später entdecke ich ihn in der Küche, wie er mit einem Haar auf seinem Unterarm spricht.

23.11.2023

Die scheue Frau

Die Frau ist alleinstehend. Sie steht auf der Veranstaltung allein herum. Ihr Alleinstellungsmerkmal. Klein. Weißhaarig. Zart. Scheu. Es gibt ein kurzes Gedränge im Saal, bei dem sie an den Rand und hinter die Theke geschoben wird. Sie bleibt dort. Auf einmal spricht sie jemand an. Sie versteht nicht gleich. Jemand möchte ein Wasser. Die Frau schaut sich auf der Theke um. Da steht alles. Sie gibt diesem Jemand ein Wasser. Der bedankt sich freundlich. Das gefällt ihr. Auf einmal kommt sie mit weiteren Leuten ins Gespräch. Sie will reden. „Was darf es sein, ein Wasser, ein Bier, ein Wein?“ Sie spricht deutsch, englisch, französisch, polnisch. Sie kann mit allen reden. Sie ist nicht mehr allein. Sie hält die Stellung. Hinter der Theke. Ihr Alleinstellungsmerkmal. Sie ist die Frau, die den Durst löscht. In allen Sprachen. Nach dem Ende der Veranstaltung kommt der Leiter und ist überrascht. Er fragt die kleine Frau, wer sie ist, aber sie stottert nur und bringt kein Wort heraus. Später erfährt er, dass sie Künstlerin ist, sich aber noch nie getraut hat, ihre Kunst in einer Galerie anzubieten.

12.10.2023

 

Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken … wenn man das Pferd vom Schwanz aufzäumt.

Ich habe vor, einige meiner Kollegen und Kolleginnen im Atelier10 zu interviewen. Zu diesem Zweck bin ich gerade dabei, mir ein paar Fragen zu überlegen. Manchmal sagt ein Missverständnis mehr aus als das Verständnis. Manchmal ergibt das falsche Verstehen mehr Sinn als das richtige Verstehen. In diesem Sinne werde ich meine Fragen stellen:
Gibt es eine Kunst ohne Leben?
Weinst du, wenn du dich freust?
Hast du eine künstlerische Zukunft auf diesem Planeten?
Wenn du der letzte Künstler auf der Welt wärst, was würdest du erschaffen?
Wäre es für dich schön, statt hier Kunst zu machen, in einem Supermarkt den ganzen Tag Regale einräumen zu dürfen?
Wenn du so berühmt wärst, dass man dich auf der Straße erkennt, würdest du dich freuen oder würde dich das belasten?
Gibt es einen noch größeren Unsinn als Kunst?
Würde ich dich jetzt – in diesem Augenblick – in den Unterarm beißen, würdest du dich wehren oder würdest du glauben, das gehöre zum Interview?

Ich werde hier über die Antworten, die ich von den Künstlern erhalte, berichten.

11.10.2023

 

Ich muss unbedingt ein Erlebnis wiedergeben, das ich auf der Vernissage der Ausstellung von Hanns Schmalz am gestrigen Abend in der Rechtsanwaltskanzlei Brauneis in der Wiener Innenstadt hatte.
Nach der Eröffnungsrede von unserer Atelier10-Gabriele, die äußerst liebevoll lebendig war, standen wir Besucher in den verschiedenen Räumen und kleinen Sälen, unsere Blicke und Aufmerksamkeiten auf die Bilder an den Wänden gerichtet. Manche schielten immer wieder auf die Preisliste in ihrer Hand und goutierten – diese tolle Kunst – auf Basis mehr oder weniger prall gefüllter Geldbörsen.
Ich stand ziemlich lange vor einem großformatigen Bild meines Atelierkollegen Hanns, das er wahrscheinlich ganz bewusst auf zwei Farben reduziert hat, und ließ mich in die Kraft der Abstraktion hineinziehen, als mich ein älterer Herr, etwa Mitte siebzig, in dunkelblauem Anzug und weißem Hemd, von der Seite ansprach. Er fragte mich in entspannter Tonlage: „Warum sollte ich mir dieses Bild kaufen, junger Mann?“
Ich lachte im ersten Moment auf, weil es eine Ewigkeit her ist, dass mich jemand als junger Mann bezeichnete. Aber es war ein angenehmes Kompliment für mich und ich muss gestehen, ich freute mich riesig über die Anrede. Nach meinen Klischeevorstellungen war er ein typischer Rechtsanwalts-Senior. Ich ließ mir Zeit und sagte nach einer Weile: „Warum Sie dieses Bild kaufen sollten? Weil es so schön gelb ist.“
Er schaute mich erstaunt von der Seite an und meinte: „Endlich einmal eine ganz konkrete Antwort in Sachen Kunst.“
„Immer wieder gerne“, sagte ich, und er verbeugte sich ein bisschen vor mir, vor Hanns Schmalz und vor dem Atelier10 insgesamt.        

9.10.2023

 

Ich wollte über das Herbstfest im Atelier10 schreiben, aber Folgendes ist dabei heraus gekommen:

Der Rahmen ist das Um und Auf des Bildes. Das Bild ist das Bild. Aber der Rahmen ist … Auf der Straße steht eine Tasse Kaffee. Daneben liegt ein silberner Löffel. Mit dem bin ich aufgewachsen. Ein LKW rollt darüber. Das Motiv ist das Bild. Der Rahmen ist … Der Ramen ist eine japanische Suppe. Gottfried ist mit einer Begleiterin nach Japan geflogen. In einem Aufzug sahen ihn alle an, weil er so groß ist. Seine Begleiterin sprach japanisch mit ihnen. Sie sagte, Gottfried sei kein Riese. Sie stiegen im vierunddreißigsten Stockwerk aus. Die Japanerinnen beugten sich vor Gottfried zu Boden. Eine Kuh kommt vorbei und stellt neben die Tasse Kaffee ein Schälchen weißen Blutes. Im nächsten Augenblick wird sie von einem LKW überrollt. Als hätte sie ihren Tod voraus geahnt, war ihre Milch rot. Das Bild ist tausend Bilder. Aber der Rahmen …

7.10.2023

 

Wein

Der Herbst ist deshalb so schön, weil die Trauben lesen lernen. Ich bin in einer Weingegend aufgewachsen. Ich weiß, wovon ich rede: Es ist ein Wunder, was zu dieser Zeit in den Weingärten geschieht.

Die Presse steht im Keller.
Der Weinhauer hat sich verlesen.
Die Hauerin bringt das Fass zum Überlaufen.
Zucker und Alkohol.
Wer panscht, geht in die Hefe.
Zwei Fremde gehen in die Paartherapie.

3.10.2023

 

Simpel Sample

Das Leben ist eine Baustelle.
Eine Kreativbaustelle.
Das Leben ist ein Atelier.
Lauter unfertige Werke.
Und wie im Leben ist es auch hier,
dass viele Menschen ein und ausgehen.
An ihren Werken arbeiten,
zufrieden sind und unzufrieden sind.
Sich mit anderen messen.
Andere mit Messern bewerfen.
Das Leben ist ein Sammelpunkt.
Der Mensch ist ein Punktesammler.
Das Atelier ist ein Pointilismus-Gemälde von Jackson Pollock.
Ein Punkte-Sammler-Sample.
Sammler sind Eichhörnchen, die erkunden,
was im Atelier an Früchten von den Bäumen fällt.

26.9.2023

 

„Jesus, was machst du mit dem Bild, du frisst es ja auf!“
Gottfried klebt mit seinem „guten Auge“ auf dem Bild, an dem er gerade arbeitet. Die Farbstifte liegen in Reih und Glied. Als hätte er sie militärisch ausgerichtet. Die Soldaten seiner Kunst. Das gefällt mir. Von Florian weiß ich, dass Gottfried erst vor kurzem zwei großformatige Bilder verkauft hat. Die Bilder sind gerade beim Rahmen. Florian verriet mir, dass er Ideen für sieben verschiedene Rahmenmöglichkeiten gehabt hätte. Der Rahmen ist das Um und Auf eines Bildes. Ich bin sehr stolz auf Gottfried wegen des Verkaufs und klopfe ihm auf die Schulter.
„Ich habe mir vor einigen Tagen im Filmmuseum Duell von Steven Spielberg angesehen“, erzähle ich Gottfried. Er ist ein Filmliebhaber, wie ich.
„Oh ja, guter Film“, pflichtet er mir bei.

David Mann, ein Durchschnittsamerikaner vom Typ Vertreter, fährt mit seinem Auto auf dem Highway durch die Kalifornische Wüste. Wahrscheinlich zu einem Geschäftstermin. In einer Raststätte telefoniert David Mann mit seiner Frau. Sie stecken in einer Ehekrise, haben schon lange keinen Sex mehr. David beschuldigt sie eines Seitensprungs. Er fragt sie, wie lange die Affäre schon läuft. Sie streitet alles ab. Aber David glaubt ihr nicht. Wieder auf dem Highway, taucht hinter David Mann ein riesiger schwarzer Tanklaster auf, der ihn fortan verfolgt, bedrängt und jagt. Es wird eine Verfolgungsjagd auf Leben und Tod. Das Gesicht des Fahrers bleibt im Dunkeln. Man sieht nur einmal kurz seine Cowboystiefel. Der bedrohliche Truck, der immer größeren Druck auf ihn ausübt, steht für die ausgelagerte, unkontrollierbare Sexualität, der David nicht mehr Herr werden kann. Sie nötigt ihn zu Vollgas und äußerst gefährlichen Manövern. Schließlich dreht David Mann den Spieß um, wendet seinen Wagen und rast – auf Teufel komm raus – frontal auf seinen Verfolger zu. Kurz bevor es zum Zusammenstoß kommt, rettet sich David durch einen Sprung aus dem fahrenden Wagen. Beide Fahrzeuge stürzen in den Abgrund und gehen in Flammen auf.

„Faszinierender Film“, wiederhole ich schwärmerisch.

Gottfried gibt mir recht, ohne sich mit seinem Auge auch nur einen Millimeter von seinem Bild zu entfernen. Er wippt leicht mit dem Oberkörper vor und zurück und legt den Stift zur Seite.
„Darf ich dich was fragen?“, frage ich ihn.
„Nur zu.“
„Hast du auch einen blinden Fleck? Ich meine, auf deinem guten Auge?“
„Jedes Auge hat einen blinden Fleck“, antwortet er, „mein gutes Auge ist besser als das andere, aber trotzdem nicht ausgezeichnet.“
„Also mit weniger Sinneszellen ausgestattet als ein normal sichtiges Auge.“
„In jedem Auge gibt es einen Bereich ohne Sinneszellen. Bei mir ist der Bereich wahrscheinlich viel größer als bei dir.“
„Aber das Gehirn füllt diesen Bereich doch aus, oder? Nennt man den Vorgang nicht Filling-In?“
„Ja. Aber mein blinder Fleck ist ein Hochhaus, deiner ein Staubkorn.“
„Das Gehirn hat viel mehr zu tun.“
„So ist es.“
„Hmm, wau! Das stelle ich mir wahnsinnig anstrengend vor.“
„Ist es auch. Das Gehirn hat was gegen leere Stellen. Woher nimmt das Gehirn das ganze Füllmaterial? Das ist die Frage.“
„Schon sehr spannend.“
Gottfried rollt einige Farbstifte auf der Tischplatte, als würde er sie neu positionieren.
„Ich finde, Duell ist Spielbergs bester Film“, sage ich.
„Ich glaube, seine späteren sind wichtiger“, meint Gottfried, „aber du hast recht: Duell ist vielleicht sein stärkster.“
„Ich geh heut früher. Muss noch zur Psychotherapie. Ciao, Gottfried.“
„Ciao, August, bis bald. Pass auf deinen blinden Fleck auf.“

25.9.2023

 

Kulturpessimismus

Die Angst geht um. Wie eine Krankheit. Ich mache mir ein Bild. Ein Heiligenbild. Das man anbetet. Das man bittet. Um Hilfe. Auf dass es blasser werde und verschwinde.
Aber das Bild verwandelt sich zurück. In die Krankheit, die es vorher war.

Kulturoptimismus

Die Freude geht um. Wie eine Hochzeit. Ich mache mir ein Bild. Ein Menschenbild. Das man anbetet. Das man beschenkt. Mit Liebe. Auf dass es stärker werde und für immer bleibe.
Und das Bild verwandelt sich zurück. In die Freude, die es immer schon war.

21.9.2023

 

Ich beende das Telefongespräch und lege das Handy weg. Ich muss belämmert oder verwirrt aus der Wäsche schauen, denn Helmut fragt mich: „Was ist mit dir, geht’s dir nicht gut?“
„Oh nein, ich bin nur müde.“

„August, wann hab ich Geburtstag gehabt?“
Ich weiß, warum er das fragt.
„Ich weiß, was du meinst, Helmut, aber ich sammle noch.“
Ich hab versprochen, ihm zum Geburtstag viele bunte Schraubverschlüsse von Quetschobstsäckchen zu schenken. Ich glaube, er baut sie in seine große kleine Playmobil-Kunstwelt ein.
„Ich bin noch nicht so weit.“
„Ich frag ja nur.“
„Du willst ja nur die Verschlüsse, oder?“
„Ja.“
„Also muss ich noch viele viele Quetschobstsäckchen austrinken.“

„Mit wem hast du telefoniert? Ich hab gesehen, dass du Bussi geschickt hast.“
„Ach ja? Machst du das auch?“
Er lacht. „Nein.“
„Es war meine Freundin. Ihr geht’s gerade nicht so gut. Sie möchte so gern, dass der Montag abgeschafft wird. Weil sie heute einige schwierige Termine hat.“
„Wieso? Können die den Montag abschaffen?“
„Nein, natürlich nicht.“
„August, ich sag dir, wenn die den Montag abschaffen, kommt die Pandemie auch wieder und die Maske und wir dürfen nicht mehr ins Atelier.“
„Nein, Helmut, nichts davon geschieht. Meine Freundin wünscht sich, dass der Montag abgeschafft wird. Er wird nicht wirklich angeschafft.“
„Ich sage dir, wenn die den Montag abschaffen, suche ich mir eine neue WG.“

„Helmut, bleib einmal da. Komm bitte her, ich will dir was sagen. Pass auf, es ist nämlich so: Ich schreibe Geschichten über unser Atelier und die kann man dann im Internet lesen. Verstehst du?“
„Welche Geschichten?“
„Geschichten über das, was hier im Atelier so passiert. Meistens lustige Geschichten, weil wir ja oft Spaß miteinander haben.“
Helmut grinst und sucht meinen Unterarm nach einem verdächtigen Haar ab.
„August, ich glaub, du brütest was aus.“
„Nein, im Ernst. Willst du, dass ich dir eine solche Geschichte einmal vorlese?“
„Hier hast du es.“ Er reißt mir ein Haar aus. „Das ist der Übeltäter.“
Ich ziehe meinen Arm zurück. „Außerdem, es gibt da eine Frau, die passt auf, dass hier im Atelier alles mit rechten Dingen zugeht, dass es jedem gut geht, verstehst du?“
Helmut ergreift sich wieder meinen Arm. Es ist zwecklos. Er hört mir nicht zu.
„Diese Frau meint, du solltest wissen, dass ich über dich Geschichten schreibe. Sie meint, ich sollte sie dir vorlesen. Willst du das?“
Er reißt mir noch ein Haar am Unterarm aus. „Autsch! Jetzt hör auf damit!“
Er grinst schelmisch. Er hat scheinbar den Auftrag einer höheren Macht, sich um die Gesundheit in unseren Härchen zu kümmern. Helmut kommt diesem Auftrag nach.
„Komm, lass mich!“
„Warte, eines noch.“
Er zupft mir das letzte Härchen aus und schimpft mit ihm, es solle mich in Ruhe lassen und mir keine Schwierigkeiten mehr machen. Helmut ist eine Art Schamane. Er verdient unser aller Respekt.

Großes Facelifting

Ich gehe in die Galerie, wo gerade groß umgebaut wird. Überall stehen Bilder, in jedem Format, und sonstige Kunstwerke herum, Skulpturen und so weiter. Es ist schön, wenn sich was verändert. Änderungen sind immer gut. Große Änderungen sind sehr gut. Wenn man zu lange in eine Richtung fährt, kommt man zum Ausgangspunkt zurück. Und das wollen wir nicht. Das will keiner von uns im Atelier10. Zwischenwände werden aufgebaut. Das heißt, es wird mehr Ausstellungsfläche geschaffen. Gut.
Der Atelierleiter Florian erklärt mir, dass sie vorhaben, alle Künstler gleichzeitig und durcheinander auszustellen; das nennt sich „Petersburger Hängung“. Dicht an dicht. Ich erlaube mir ein Späßchen und frage Florian, ob er für mich eine Ausnahme machen und sie „Leningrader Hängung“ nennen kann. Wir lachen. Ich freue mich wie ein Kind, wenn Florian über meine Witzchen lacht. Es ist wie Nahrung für mich.

Es gefällt mir, auf einem Bahnhof auf einer Bank zu sitzen und auf den Zug zu warten. Ein angenehmes warmes Gefühl durchströmt mich, wenn ich weiß, dass in Kürze ein Transportmittel kommt, in dem ich Platz haben werde und das mich mitnimmt. Wo immer es mich hinbringt, es wird ein Ort sein, den ich für mich ausgesucht habe. Es gefällt mir, wenn ich mich auf eine Abfahrtszeit und einen Ankunftsort verlassen kann. Es ist bis jetzt keine Verspätung angezeigt. Es gefällt mir, wenn ich unter anderen wartenden Passagieren sitze, und mir widerstrebt, was meine Augen sehen. Rauchende, Kaugummi kauende, Handy lesende, Nasen bohrende, sich kratzende, gähnende, gelangweilte, ausdruckslose, ausdrucklose, ausdruckslose andere Passagiere. Einer muss schon die längste Zeit zur Toilette, aber er verhält sich den Drang … Das gefällt mir. Diese Typen sind auch in einer Art „Petersburger Hängung“ gefangen. Wir sehen uns an, ohne uns wirklich anzusehen, und wir wissen voneinander, dass der Andere gefangen ist, nur selbst glauben wir uns frei. Der Zug kommt und nimmt alle mit.

17.9.2023

 

Ich hab Zeit

Ich denke so langsam nach, dass mich ein Baum anhupt, ich solle mich endlich entscheiden.
Ich warte so lange mit dem nächsten Strich, bis mich die Kunst aus ihrer Gebärmutter wirft.
Ich spüre so lange dieselbe Kälte, bis ein Licht in mir angeht, wenn man mich öffnet.

13.9.2023

 

Das Atelier betritt man über die Galerie. Helmut hockt auf dem Galerieboden und mischt Farben. Aus Rot, Polarweiß und Grau soll ein neues Rot entstehen. Helmut gibt mir ungefragt Auskunft: „Ich will dieses Rot haben.“
Er zeigt auf eine Taschenlampe, die neben drei Flaschen Acrylfarbe auf dem Boden liegt. Das Gehäuse der Taschenlampe ist an einer Ecke abgeschlagen. Er will die beschädigte Stelle nachlackieren. „Ich will genau diese Farbe finden“, sagt er.
Ich schaue auf das Taschenlampengehäuse und auf die Farbe, die er bis jetzt gemischt hat. Für mich dieselbe Farbe. Aber Helmut hat die besseren Augen. Davon kann man ausgehen. Das wissen alle im Atelier. Helmut sieht ein schief wachsendes Haar auf zehn Metern Entfernung. Er sammelt schon sein ganzes Leben Taschenlampen.

Ich gehe zu meinem künstlerischen Arbeitsplatz und verrichte die Dinge, die man in einem Atelier gewöhnlicher Weise verrichtet. Ich zeichne. Aber es will mir nicht so recht von der Hand gehen. Also gehe ich nach etwa einer Stunde wieder in die Galerie. Helmut hockt in derselben Stellung am Boden.
„Sag einmal, tun dir deine Knie nicht weh?“, frage ich ihn.
Er gibt mir keine Antwort. Stattdessen sagt er in seinem unnachahmbar raunzerischen Ton: „Ich bin schon fast ganz im richtigen Ton. Und das ärgert mich.“
Ich werfe einen Blick auf die Taschenlampe und auf die von ihm gemixte Farbe. Für mich besteht da kein Unterschied. Für mich sind die Farben ident.
„Warum ärgerst du dich, wenn du fast im richtigen Ton bist?“

Wie komm ich auf die Idee, mir darauf eine Antwort zu erwarten?

Ich geh in die Küche, schließe im Aufenthaltsraum für ein gefühltes Nickerchen meine Augen, spaziere im Atelier-Loft von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz, setze mich wieder an mein Bild und starre es an. Was für ein blödes Gesicht. Warum zeichne ich blöde Gesichter? Vielleicht ist es kein blödes Gesicht. Vielleicht ist es ein gescheites Gesicht. Ich zeichne das Bild fertig und fange ein neues an. Wieder ein blödes Gesicht. Ich gehe zur Toilette. Und wenn ich schon in der Nähe bin, kann ich auch gleich in der Galerie bei Helmut vorbeischauen.
Helmut hockt in unveränderter Haltung am Boden. Ich sehe sofort in seinem Gesichtsausdruck, dass er den richtigen Farbton noch nicht gefunden hat.
Der Boden der Galerie ist flächenweise von verschiedenen Farben verschmiert.
„Wer wird das wegputzen?“, frage ich, nicht direkt ihn, sondern mehr in den Raum hinein.
Keine Antwort. Stattdessen Helmuts Frage: „Was ist eigentlich Polarweiß? Ist das noch weißer als weiß?“
Diesmal habe ich keine Lust auf antworten. Ich gehe in den Aufenthaltsraum, wo Patrick sitzt. Ich setz mich zu ihm.

„Schmeckt dein Kaffee?“
„Jahmmngkntt.“
„Ist das Filterkaffee?“
Er rührt mit seinem Kopf in der Luft um. „Hrnggkrrdwamm.“
„Wie geht’s dir, Patrick?“
„Arnmmmgnttwanggt.“
„Ist heute dein Tag?“
Ein Lächeln landet auf der Landebahn seines Mundes, er öffnet sich, die pralle Zunge rotiert ein wenig in der Mundhöhle.
„Hammmnnganfferrt.“
„Mir gefallen deine Bilder so gut.“
Jetzt lacht er richtig – hinreißend, bezaubernd.
„Hommhumdorrnffft.“
Die Brille rutscht auf seine Nasenspitze. Er schiebt sie mit dem Fingerknöchel über den Nasenrücken. Er ist stolz auf seine Kunst.
„Weil sie architektonisch sind. Umfallende Häuser. Zur Seite kippende Häuser. Ich finde das genial. Wie kommst du auf die Idee?“
Sehr stolzes Lächeln.
„Mangtch.“ Ich falle ihm ins Wort: „Gerade stehende Häuser interessieren dich nicht so …“
Draußen rennt Helmut brüllend vorbei. Er hat endlich den richtigen Farbton gefunden. Das beeindruckt Patrick nicht im Geringsten. Er hebt nur kurz eine Augenbraue. Mehr Aufmerksamkeit gesteht er Helmut nicht zu.
Helmut rennt kreuz und quer durch das Atelier und brüllt, dass er es geschafft habe. 

Ich wende mich wieder Patrick zu. „Herrliches Gespräch mit dir. Nein, ich meine das im Ernst. Ohne Ironie. Mir sind diese Gespräche wichtig und wert.“
Patrick steht auf, stellt die leere Kaffeetasse ab und geht an seinen Arbeitsplatz, umfallende Häuser malen.

Helmut flitzt durchs Atelier und schreit: „Die Taschenlampe ist gerettet! Die Taschenlampe ist gerettet!“
Die Taschenlampe war nie kaputt. Das Gehäuse war ein bisschen beschädigt. Aber was weiß ich schon. Das Licht ist ihm nicht wichtig. Der richtige Farbton ist das Um und Auf der Geschichte.

12.9.2023

 

Ich treffe auf Eleonore im Aufenthaltsraum. Wir begrüßen uns kurz. Ich packe hastig meine Jause aus und beginne zu essen.
„Geht’s dir nicht gut, August?“, fragt Eleonore.
„Nicht so gut.“
„Ist was passiert?“
Ich lege meine Jausensemmel weg. „Wenn man eine psychische Krankheit hat und man sich verliebt, trotzdem verliebt, muss man fast sagen … Bei allen kommenden Problemen gibt man sich dann selbst die Schuld.“
„Ich kenne das. Du meinst, man macht sich Vorwürfe: warum habe ich mich trotz blablabla auf etwas eingelassen?“
„Ja“, gebe ich ihr Recht, „dürfen wir uns nicht mehr verlieben? Sind wir bis zum Lebensende verdammt, uns nicht mehr zu verlieben?“
„Wer soll uns das verbieten?“
„Das ist die Frage.“
„Man verliebt sich und bekennt sich sofort schuldig.“

Pause. Ich beiße von meiner Semmel ab.
Eleonore sagt, sie lasse sich auf nichts mehr ein. Das sei zwar auch keine Lösung, aber es verhindere den fucking Schmerz.
Über Eleonores Kopf an der Wand hängt ein riesengroßes Bild von ihr. Vielleicht ihr größtes, vielleicht ihr bestes. Umwerfendes Bild. Im wahrsten Sinn des Wortes – es wirft einen um. Ich staune jedes Mal, wie man so etwas fertigbringen kann. Ich renke mir den Hals aus, weil es so groß ist. Dann steht minutenlang mein Mund offen und Bewunderungssabber tropft aus mir heraus. Die Maße: mindestens zwei mal zweieinhalb Meter. Eine rundliche Frau fletzt sich genüsslich auf ein bequemes Polstermöbel, während sich im Hintergrund eine Wildkatze heranpirscht. Irgendwie gerät alles aus den Fugen, aber in träger Zeitlupe. Gleichzeitig bleibt alles schön im Rahmen. Vor allem die Wildkatze. Die Lust.

„Ja, darf man das dann überhaupt?“, frage ich Eleonore, „darf man sich verlieben, obwohl man eine psychische Krankheit hat?“
„Ich weiß auch nicht“, meint sie und schaut auf ihr Laptop, „wenn man ehrlich ist …“
Ich schlucke und schnappe nach Luft. Ein Bissen ist in die falsche Kehle geraten. Auf die schiefe Bahn.
„Willst du ein Glas Wasser?“
„Danke. Hab ich schon … Müssen wir transparenter sein als andere? Wie der gläserne Mensch?“
„Sind wir das nicht sowieso schon?“
„Dein Bild gefällt mir so gut.“
„Danke. Weißt du … ich könnte dir von einer Freundin erzählen, wie die das macht. Sie ist mit einem Mann zusammen. Der will nur Nähe. Mehr will er nicht. Er will sie aus nächster Nähe spüren. Er will ihre Hand halten. So leicht, dass sie es gar nicht merkt. Er will seinen Körper an ihrem haben. Mehr will er nicht. Er will, dass sie immer in seiner Nähe ist, nein, er will immer in ihrer Nähe sein. Ohne dass sie es merkt. Mehr will er nicht. Er will aus nächster Nähe sehen, was sie fühlt. Er will sie nehmen. Ohne dass sie es merkt. Er nimmt sie. Sie stellt sich tot. Er spricht von Nähe. Sie nennt es Enge. Sie verstehen sich nicht. Sie sollten dieselbe Sprache lernen. Er friert. Sie kriegt einen Hitzeschlag. Ihr Herz rast. Panik. „Mein Brustkorb ist frei und weit“, lernt sie im Autogenen Training. Sie macht einen Kurs. Sie verliebt sich in den Kursleiter. Der lebt in Kroatien. Es wird eine Fern-Beziehung. Genau das, was meine Freundin immer wollte. Nicht: aus nächster Nähe. Sondern: in weiter Ferne. So kann sie ihre Liebe leben.“

Ich bin sprachlos. Ich frage Eleonore: „Hast du das von deinem Laptop abgelesen?“
Sie nickt. „Das habe ich gerade geschrieben.“

5.9.2023

 

Lustige Lulu-Fäden

Wir sind überwältigt! Ich muss im Plural schreiben, weil ich – singulär – das nicht fassen kann. Wir stehen vor der Rauminstallation von Joesi Moser auf der „Parallele Vienna“ und sind überwältigt. Mir fehlt die Kapazität, das als Einzelner zu erfassen.
Dieser Eindruck nieder geschnallter, fest gezurrter Pölster, Kissen, Tränenkammern in einem verkommenen Waschraum. Man ist versucht zu denken: Augen zu und durch. Wenn da nicht die neon-gelben Klebebänder wären, die an lustige Lulu-Fäden erinnern. Es ist ein Spaß mit der künstlerischen Inkontinenz, mit der inkontinenten Kreativität. Und wenn man bedenkt, dass man sich auf dem Boden der psychiatrischen Realität befindet (Otto-Wagner-Spital, vormals Baumgartner Höhe), fängt die Phantasie erst richtig zu rumoren an.  
Unsere liebe Joesi Moser hat gleichsam zurück gehaltene Flügel auf weiße Sockelbetten festgeklebt, damit sie sich nie wieder ausbreiten und einem irrenden Körper zum Fliegen verhelfen. Oder sie hat Baby gerechte, unschuldig weiche Wickeltische geschaffen, sieben Stück, bei denen die Achtsamkeit ein wenig zu straff gespannt ist. Oder sie hat einfach ihrem Drang freien Fluss gelassen, Innenwelt (Psyche) und Außenwelt (Körper) zu verehelichen, bis dass der Waschzwang sie scheidet. 
Alles ist möglich.

Gratuliere!

18.8.2023

 

J O E S I – die Auserwählte !

Wenn sie ihre Lippen knallrot nachzieht, wirft sie nachher einen strengen Blick in einen kleinen Spiegel. Das Rot ist wirklich KNALL-Rot, und sie macht das ständig, das heißt ihre Lippen sind nie blass. Ihr Blick ist oft streng. Aber wenn sie lacht, reißt die Sonne jede Wolkendecke auf und sie strahlt und ihr kurzes weißes Haar ist wie leuchtendes kosmisches Moos. Mit diesem Anblick verzaubert sie meine persönliche Herkunftsrealität und macht uns zu Geschwistern. Geschwister in Buddha. (Behaupte ich jetzt einmal großspurig, als würde ich mich auskennen.) Und das Allerschönste: Sie tut (nach den Buchstaben des umgekehrten Dschungelgesetzes) keiner Fliege was zu Leide. Kann sie gar nicht. Ich habe noch nie erlebt, dass sie eine Fliege unachtsam, womöglich verletzend, von ihrem veganen Burger verscheucht, weggewischt. Nein, sie spricht mit der Fliege, erklärt ihr geduldig, warum sie besser wegfliegen soll.

Diese, unsere JOESI  MOSER  wurde auserwählt, bei der Kunstmesse „Parallele Vienna 2023“ auszustellen. Ich freue mich RIESIGST mit ihr! Und ich bin gespannt wie eine Armbrust kurz vor dem Abschuss des Pfeils, was sie mit dem Raum machen wird, wie sie ihn bespielen, bestücken und beglücken wird. Natürlich weiß ich bereits ein bisschen was …

17.8.2023

 

Ich komme ins Atelier und sofort rückt mir Helmut auf die Pelle. Er spricht in rasender Geschwindigkeit von einem Schlüssel, den er verlegt hat, von einem Mitbewohner in seiner Wohngemeinschaft, der immer seine Zimmertür abschleckt und von den verschieden farbigen Verschlüssen von Quetschi. Obstmussäckchen zum Ausquetschen. Helmut nennt sie Quetschi Quetschi. Warum weiß ich nicht.
Ich wende mich von ihm ab und gehe von meinem Arbeitsplatz weiter zum Aufenthaltsraum. Er bleibt mir dicht auf den Fersen. Ich höre ihn hinter mir aus seiner Wasserflasche trinken. „Willst du erst ankommen, August?“, fragt er mich. „Ja, bitte lass mich zuerst ankommen“, antworte ich. Er nimmt mich trotzdem weiter in Beschlag. Er redet wie aufgezogen hinter meinem Rücken auf mich ein. Zwischendurch höre ich ihn aus seiner Wasserflasche trinken.
Irgendwann drehe ich mich um und erkläre mich bereit für eine Konversation mit ihm.
„Also, Helmut, was ist los?“
„August, du kannst auch im Müll ein Geschenk für mich suchen.“
Ich kapiere. Helmut hat Geburtstag. Er macht sich Gedanken, was ich ihm schenken könnte.
„Ich mag aber nicht im Müll suchen.“
„Ich meine ja nur. Im Müll haben die sicher gebrauchte Taschenlampen oder andere Elektrosachen. Das kann ich alles umbauen.“
„Helmut, ich will nicht im Müll stochern.“
„Du brauchst praktisch nur zur MA 48 gehen und dort fragen, wo der Elektromüll ist …“
„Helmut! Ich gehe ganz sicher nicht zur MA 48.“
„Ich meinte ja nur, weil die …“
„Helmut! Ich mach das nicht. Soll ich dir ein paar Quetschis schenken?“
Quetschi Quetschi. Lieblingsthema von Helmut. Er steht eigentlich nur auf die farbigen Dreh-Verschlüsse.
„Ich habe von dir gelbe, orange und braune bekommen. Von meinem eigenen Geld hab ich mir violette und Rapid-grüne gekauft.“
„Selbst gekauft?“
„Der Zivi ist mit mir zum Supermarkt gegangen, ist draußen stehen geblieben, ich bin hinein.“
„War’s nicht vielleicht umgekehrt?“
„Ja, du hast recht. Ich hab draußen gewartet und der Zivi ist hinein gegangen.“
„Siehst du, jetzt hast du schon fast alle Farben.“
„Ich mag das nicht alles trinken.“
„Du kannst die Quetschi auch mir mitnehmen und ich trinke sie.“

Plötzlich fällt Helmut etwas ganz anderes ein. Das sehe ich an seiner Stirn, die sich auf besondere Weise in Falten legt.
„Kinder sind kein Spielzeug“, sagt Helmut, hebt seine flache Hand und schlägt mit der Handkante durch die Luft, „sie brauchen ihre Zeit. Zuerst im Kindergarten, dann in der Schule. Später im Badezimmer. Wo sie älter werden. Und ihre Gefühle wachsen. Kinder werden auch irgendwann erwachsen. Aber das dauert. Aber Kinder nehmen ihr Spielzeug mit …“
„Wohin mit?“, frage ich Helmut, ernstlich interessiert.
Helmut lacht mich aus. „Wohin schon. Du kannst fragen. Zur Hochzeit. Wo sie heiraten. Meine Mutter hat gesagt, ich soll aufhören mit An-die-Wand-Klopfen, als ich klein war.“
Sein Gesicht kriegt wieder einen verzwickten Ausdruck.
„Ich bin ja auch nur wie ein Mensch.“
„Du bist ein total menschlicher Mensch, Helmut.“
„Manchmal sind die Menschen kompliziert.“
Helmut schaut im Aufenthaltsraum die Topfpflanzen hoch, die bis zur Decke  reichen.
„Wie ist das bei den Pflanzen?“, fragt er, „die brauchen auch düngen, gießen, Sonnenlicht, oder?“ Ich stimme ihm zu. Ohne zu ahnen, worauf er hinauswill. „Die Hitze macht die Pflanzen müde. Schlafen Pflanzen auch? Dann muss man sie mit kaltem Wasser wieder aufwecken.“
Plötzlich grinst er wieder. Der Schelm schaut ihm aus den Augen. „Wenn du bei einer Sexpuppe einen Fehler machst, wenn du zum Beispiel abrutschst, musst du dich bei ihr entschuldigen.“
„Wie kommst du jetzt auf eine Sexpuppe, Helmut?“
„Ich meine ja nur, weil du gesagt hast, dass dich deine Freundin nicht mehr richtig mag.“    

In der Zwischenzeit sehe ich Patrick in die Galerie kommen. Das heißt, zuerst höre ich ihn – wie immer – unverständlich murmeln, dann erst sehe ich ihn um die Ecke wackeln. Sein Down-Syndrom geht ihm hörbar voraus. Er nimmt Kurs auf das Präsentationstischchen und schlägt das Besucherbuch auf und tut so, als würde er die letzten Einträge darin lesen. Florian hat mir gesagt, dass er das bei jedem seiner Besuche im Atelier macht. Er hat sogar schon mehrmals etwas hineingeschrieben. Also geschrieben kann man nicht direkt sagen, eher hinein gekritzelt.

Helmut ist so müde, dass ihm auf dem Sofa die Augen zufallen und die Wasserflasche aus seiner Hand rutscht. Er murmelt: „Am liebsten würde ich noch eine Flasche trinken und schlafen gehen.“
Ich mag ihn, so wie er ist. Er ist wie ein kleiner verwirrter Prinz. Im Halbschlaf murmelt er: „Das Licht macht die Pflanzen Rapid-grün.“ 

16.8.2023

 

Gabi vom Leitungsteam liegt mir ständig in den Ohren, ich solle doch endlich meine neuen Zeichnungen signieren. Sie hat ja recht, aber ich laufe ihr richtiggehend davon, ich drücke mich davor. Warum eigentlich? Ich komme mir schon vor wie ein kleiner gehetzter Kunstwolf, von denen es nicht viele gibt, aber die sich gefälligst zu ihrem seltenen Wolf-Sein in der Zivilisation bekennen sollen. Mit Unterschrift und Datum. Ein Kunst-Wolf mit beleuchteten Plüschohren und gelb aufblinkendem Gebiss. Wegen der grotesken Darstellung von Gefahr. Wir AT10-Künstler sind ja eine seltene Spezies wie Wölfe in der zivilisierten Gesellschaft. Uns darf man nicht abschießen oder domestizieren. Man muss uns wild belassen. Aber – großes Aber – wir müssen unsere Werke signieren und datieren. Das gehört zum Deal.
Bei mir ist das Nicht-Unterschreiben-Wollen die Angst vor dem endgültigen Bekenntnis zur Künstlerschaft in diesem Atelier. Ich bekenne mich hiermit zu meinen neuen Zeichnungen und signiere und datiere sie! So. Reicht das? Ich weiß nicht. Muss ich noch eine weitere Art von Zeugnis ablegen oder gar einen Kotau vollführen? Wie machen das die anderen, meine Kollegen und Kolleginnen? Sie schaffen, schöpfen, werken, malen usw. und signieren ihre Werke, die meisten jedenfalls, mit einer Selbstverständlichkeit, die mir allen (staunenden) Respekt abverlangt.

Diese Bilder sind von mir. Ich bekräftige das mit meiner Signatur und alle Welt darf das wissen. Ich laufe nicht mehr davon und Gabi hinter mir her?
„Hey, August, bleib mal stehen, signier deine neuen Blätter.“
„Ach nein, Gabi, jetzt kommt das Wochenende, vielleicht nächste Woche.“
Was für ein Quatsch! Ich kleiner beleuchteter gehetzter Wolf mit Plüschohren und gelb aufblinkendem Gebiss, was ist mit mir los? Warum führe ich mich so auf, mein kleines, vor Aufregung rasendes Kunstwolfsherz in ein Stempelkissen zu tauchen, um meine neuen Zeichnungen abzustempeln. Ich hab sie geschaffen. Warum schaff ich es nicht, mich dazu zu bekennen? Ich stehe in diesem Stall. Ich zeichne in diesem Stall. Ich rieche nach diesem Stall. Ich bin nicht in einsamer freier Wildbahn. Ein Stall, ja. Aber kein Gefängnis. Ich könnte, wann immer ich will, davonlaufen. Aber wenn ich bleibe, gehört es nun einmal dazu: Signatur und Datum darunter gesetzt, und schon wird mir das Blatt von Kunstkennern aus der Hand gerissen …

12.8.2023

 

Eine Geschichte über bunte Söckchen in Sneakers

Wenn man getrennt wird, ist das immer eine Katastrophe. Als ich bei meinem ersten Aufenthalt im Kinderheim von meinem älteren Bruder getrennt wurde, war das schlicht der emotionale Untergang für mich.
Man gewöhnt sich auch an Misshandlung und Schläge. Ich betrachte meine zittrige Hand. Wenn man von Schlägen als einzigem Liebesbeweis getrennt wird, ist es genauso schlimm.
Ein altes Sprichwort sagt: Man braucht etwas wie „der Hund seine Schläge.“ Schläge als letzte Zuwendung vor der totalen Kälte.
Im Verlust, im Getrenntwerden, im Alleingelassen-Sein rast mein Herz. Ich kann nicht still stehen. Aber auch im Kontakt, in enger Verbindung, in fester Beziehung, rast mein Herz. Ich kann nicht still stehen. Mit zittriger Hand tappen meine Hundepfoten über die Zeichnung und zeugen von der einen und der anderen Seite. Mein ganzes Leben fühlte ich mich von irgendwas/irgendwem getrennt.
Mein Herz zeichnet anders als mein Kopf schreibt. Die Liebe sollte als erste Lebensgefährtin im Kopf eines jeden stecken. Wenn sich meine Lebensgefährtin von mir trennt, bin ich in Lebensgefahr. Ich bettle um ihre Zuwendung. Aber Bettler sind keine Diebe. Bettler haben das Recht darauf hinzuweisen, dass sie auch versorgt werden möchten.

8.8.2023

 

Eleonore steht im Aufenthaltsraum und hört über Kopfhörer Musik. Kopfhörer sind ein Zeichen dafür, dass man nicht angesprochen werden will. Aber häufig ist es auch kein Zeichen. Sie rollt sich eine Zigarette. Sie studierte bei einem sehr bekannten Künstler auf der Akademie. Sie malt tolle Bilder. Riesige Formate. So groß, dass man den Kopf hin und her drehen muss, wenn man davor steht. Sie hat oft coole Kleider und Schuhe an. Sie wippt ein wenig mit dem Kopf. Ich stelle mir vor, dass in ihrem Kopf gerade folgendes passiert: Menschen quellen aus U-Bahn-Schächten. Wie Insekten, gesichtslos, irre, rennen wie gehetzt aufeinander zu. Prallen aufeinander, drücken sich an sich vorbei. Sie rempeln einander, stoßen sich gegenseitig die Ellbogen rein. Geben schauderhafte Geräusche von sich. Irgendjemand brüllt aus vollem Hals, dass Europa untergehen soll!
Ich weiß nicht, warum ich mir das vorstelle. Nur so eine Phantasie. Vielleicht wegen der Musik, die man leise aus Eleonores Kopfhörer dröhnen hört?
Sie nimmt ihre Kopfhörer ab, begrüßt mich und sagt zu mir, dass sie wieder einen neuen Song aufgenommen hat. Sie habe aber noch keinen Namen für den Track. Eleonore ist auch Musikerin. Ihre Mehrfachbegabung ist toll. Aber ihre Malerei ist schlicht ein WUNDER! Was soll ich sagen – sie hat es drauf.

Einmal hatte Eleonore Besuch im Atelier. Die Frau fragte, wer da Trompete spiele, das höre sich ja live an. Sie blickte umher und suchte mit den Augen, was sie mit den Ohren hörte.
Eleonore erklärte: „Das ist der August mit seiner Trompete.“
„Der darf hier spielen?“
„Ist ja nur Luft.“
Sie kamen um die Ecke und da stand ich und spielte mit meiner Lufttrompete.

Ich hätte als Kind gern übernatürliche Kräfte besessen. Um beim Trompete Lernen das Mundstück weicher zu machen. Es war so hart und beim Spielen haben mir die Lippen oft so wehgetan. Das war schrecklich. Die hohen Töne habe ich nur unter Schmerzen geschafft. Mein damaliger Musiklehrer hat gesagt: „Du musst pressen! Mehr pressen! Durch Pressen wirst du zum Mann!“ Aber ich habe es nicht geschafft. Vor allem die hohen Töne. Diesem Pressen, diesem Druck, war ich einfach nicht gewachsen. Als Erwachsener habe ich auf Lufttrompete umgesattelt. Schluss mit Pressen. Dafür mit einer Riesen Freude. Bis heute. Wann immer, wo immer, ich Lust darauf habe, packe ich meine Lufttrompete aus und spiele ein paar Töne. Ohne Instrument. Ohne Mundstück. Die Leute drehen sich um, überrascht von der Echtheit des Klangs. Und halten Ausschau nach einem Instrument. Aber sie finden keines. Eben Lufttrompete. Ein Traum Instrument. Und meine Lippen bleiben ganz weich.

2.8.2023

 

Schritte sind die Schluckgeräusche des Bodens.
Als es mir vor einigen Jahren psychisch sehr schlecht ging, schlug mir die Psychologin im Otto-Wagner-Spital mehrere Methoden zur besseren Selbstwahrnehmung vor. Das heißt, ich musste meine Selbstwahrnehmung nicht nur verbessern, sondern überhaupt erst damit beginnen.
Ich bin da. Das bin ich.
Erst kommt die Selbstwahrnehmung. Später die Selbstliebe. Natürlich nicht von ungefähr, nicht von allein. Man muss schon etwas dafür tun. Jetzt ist es so weit. Ich frage mich: Was ist Selbstliebe? Wie erlange ich sie? Ist es nicht zu viel verlangt? Mein Opa sagte früher öfter: Eigenlob stinkt. Das mag stimmen. Aber Lob ist nicht Liebe.
Selbsterfahrung ist Welterfahrung.
Ist Lob niederschwelliger als Liebe? Ich glaube schon. Niederschwellig im Sinn von leicht erreichbar. Ein Lob ist schnell hingesagt. Aber Liebe, SELBST-Liebe … das ist schon ein Riesending. Ich lobe mich für etwas Bestimmtes. Aber ich liebe mich bedingungslos. Ohne besondere Leistung. Einfach weil ich da bin. Das geht an die Substanz.
Ich lade die Veränderung ein, jede Veränderung.
Meine Psychologin im Spital sagte zu mir: „Sie sind doch bildender Künstler, ein Zeichner. Kennen Sie den polnischen Maler Roman Opalka? Der hat im hohen Alter weiß auf weiß gemalt.“ Meinte sie damit, das sei Selbstliebe? Weiß auf weiß zu malen?
Folgt mir. Ich komme nach.
Aber es soll ja an die Substanz gehen. An den Kern. Ein Psychiatrieaufenthalt geht ja auch an die Substanz. Wirft dich aus der Mitte des Lebens. Die Psychologin fragte mich: „Was hören Sie, wenn Sie gehen?“
Schritte.

31.7.2023

 

Su und der Wind

Der Wind ist ein Hund! Das kann ich mit Fug und Recht behaupten. Ein gemeiner Hund! Er schlägt Su – noch dazu an einer stark befahrenen Straßenkreuzung – einen Stapel Zeichnungen aus der Hand. Die Zeichnungen flattern auf und davon und wirbeln durcheinander. Su lässt ihr Handy fallen. Sie schnappt nach den Zeichnungen, erwischt aber keine einzige. Sie hüpft drollig durch die Gegend und wird immer verzweifelter und wütender. Sie stößt quietschende Geräusche aus und boxt in die Luft, als könnte sie den Wind ermahnen. Sie weint und kreischt vor Verzweiflung und Zorn.
Gottfried und ich kommen zufällig des Weges. „Oh mein Gott! Su hat Probleme!“, rufe ich aus und steuere auf die gegen die Elemente kämpfende Su zu. Gottfried stakst hinter mir her.
Mir fliegen Sus Zeichenblätter um die Ohren, so schnell kann ich gar nicht schauen. Ich fange einige aus der Luft. Einige fixiere ich mit einem Tritt auf dem Boden. Ich rette, was noch zu retten ist. Autoreifen planieren einige in den Asphalt. Gottfried hilft mir dabei, so gut er kann. Ich halte Su davon ab, einer davonfliegenden hinterher auf die Straße zu springen. Es müssen sehr wichtige Zeichnungen für sie sein. Sonst würde sie das nicht riskieren. Der Autoverkehr lässt sich durch nichts stoppen. Schon gar nicht durch bunte Kunstwerke.     
Der dreiviertel blinde Gottfried stolpert einer vom Winde verwehten Zeichnung hinterher und schnappt sie sich vom Boden und reicht mir ganz stolz einen Werbeprospekt vom Supermarkt. Da denke ich mir, lieber Himmel!, in was für eine Gesellschaft bin ich denn geraten! Aber im selben Moment dämmert mir, dass ich doch ein gravierender Teil dieser Gesellschaft bin. Ich könnte in der Auslage dieser Gesellschaft sitzen! Ich bin doch das beste Beispiel dieser Gesellschaft!
Ich lege den Werbeprospekt zum Packen Zeichnungen und übergebe ihn der wieder fast glücklichen Su.
„Hier Su. Klemm dir den Packen unter den Arm, Su, dass ihn der Wind nicht wieder holt.“
„Ja. Danke“, sagt sie schniefend.
„Und stecke dein Handy ein.“
„Ja. Danke.“
„Fährst du jetzt nachhause?“
„Ja. Danke.“

Sie geht mit einem Vehikel von Zeichenblattstapel in Richtung Straßenbahn. Wir schauen ihr nach wie einer sich entfernenden Jahreszeit.
Gottfried fragt: „Ob sie das schafft?“
Die Frage bleibt in der Luft hängen wie Rauch einer Zigarettenwerbung.
Wir gehen in Richtung U-Bahn und reden über Filme.

27.7.2023

 

Im Ameisenhaufen wurde beschlossen, sich nur noch zu siezen. Wegen zu großer Nähe und Beklemmung und schlechter Stimmung, man versteht, dass dabei nichts weitergeht.
Es bleibt nichts Menschliches fremd im Ameisenhaufen im dreckigen Unterhemd. Aber in Anzug und Krawatte und distanziertem Pläsier spürt man den Unterschied zwischen Bosheit und Tier.

24.7.2023

 

Mein Freund und Atelierkollege Helmut kann nicht gut Geschenke annehmen. Einmal habe ich ihm eine Menge halb kaputter Taschenlampen geschenkt. Er macht aus jedem Krempel Kunst. Vor allem elektronisches Zeug liebt er. Er baut jedes Einzelteil eines Gerätes in seine aktuelle raumgreifende Kunstinstallation ein. Es muss nur bunt sein oder glitzern.
Helmut sah sich die halb kaputten Taschenlampen kurz an. Er machte zwar große Augen, sagte aber nichts. Ich fragte ihn, ob er das Zeug brauchen könnte, oder ob ich es wegschmeißen sollte. Er sagte nichts. Ich ließ das Zeug auf dem Tisch liegen. Zwei Tage später hatte er das Zeug nach Farben geordnet und nach weiteren Kriterien getrennt. Ich belauschte ihn, wie er einen bestimmten Teil vom übrigen Krempel separierte und sagte: „Ich wüsste schon, wo ich euch einbauen könnte.“ Aber er ließ es immer noch auf dem Tisch liegen.
Noch einen Tag später fragte ich ihn ungeduldig: „Ich hab dir das Zeug geschenkt, ich will wissen, ob du es brauchst oder nicht.“
Er lächelte und zog seine Stirn zusammen und sagte: „Ich hab dir auch schon einmal das Leben gerettet.“

Ein Andermal.
Helmut erzählte mir: Einer aus seiner Wohngemeinschaft wollte für alle kochen, hatte aber den ganzen Abend versalzen. Helmut musste  mitten in der Nacht aufstehen, um pinkeln zu gehen. Er stieß in der Dunkelheit an. Dabei sei ein Teil der Welt untergegangen.

Helmut ahmt mit seiner Stimme – zum Verwechseln ähnlich – einen Aufzug nach. Ich frage ihn, ob der Aufzug kaputt ist.
„Woher weißt du das?“, fragt mich Helmut, höchst erstaunt.
„Na, ich höre doch, dass da was nicht stimmt.“
Helmut verzieht das Gesicht zu einem ängstlichen Grinsen. „Der Aufzug fickt das ganze Atelier! Und die können nichts dagegen tun!“
„Helmut, wie redest du denn?“
„Ich meine ja nur“, entschuldigt er sich auf seine Art, „das Atelier darf nicht still stehen!“
„Wie kommst du darauf?“, frage ich ihn, jetzt auch ein wenig ängstlich.
„Müssen wir wieder Maske tragen?“
Ich werde laut. „Nein! Natürlich nicht!“ Ich will mich von seiner Angst nicht anstecken lassen. „Es gibt ja immer noch die Treppe“, sage ich, und Helmut blickt mich fragend an. „Stufen. Man kann auch gehen. Wenn der Aufzug spinnt.“
Ich kenne ihn gut. Jetzt denkt er nach, wie er mit seiner Stimme ein Treppenhaus nachahmen könnte.

In der Zwischenzeit hat sich Horst zu uns gesellt.
Er wendet sich an mich und fragt: „Du August, warum haben eigentlich so viele Männer einen Hass auf Frauen?“
„Das würde ich auch gerne wissen“, geb ich zur Antwort.
Hinter Helmuts Stirn beginnt es zu rattern.
„Vielleicht ist der Grund“, sagt Horst weiter, „weil Mütter ihre Söhne, wenn sie ganz klein sind, oft falsch berühren?“
Das ist Helmut zu viel. Er macht kehrt und verschwindet.
„Ich weiß nicht“, sage ich zu Horst. Er sieht mich weiterhin fragend an. „Was fragst du mich? Ich weiß es nicht!“
Irgendwie ist jetzt schlechte Stimmung. Ich fühle mich betroffen und weiß nicht genau, von was. Ich setz mich an meinen Arbeitstisch und sage laut: „Lasst mich alle in Ruh!“
Dann mache ich eine Zeichnung, die mir gar nicht so schlecht gefällt.

Später bekomme ich mit, wie Helmut zu Horst geht und ihn fragt: „Wie-wie-wie meinst du das – falsch berühren?“    

18.7.2023

 

Gottfried lacht in sich hinein. Er schnalzt mit der Zunge. Sein Gesicht liegt fast auf dem Zeichenblatt, an dem er gerade arbeitet. Sein Stil ist verzerrt. Seine Figuren von einer knochigen Hand hingezittert. Die Farben, die er wählt, sieht er kaum. Gottfried ist mehr als halbblind. Er macht wunderschöne Bilder. Voll von naiv-kriminellem Humor. Er entwirft eine antisexuelle Pornographie. Seine Figuren schießen aufeinander, schreien sich die Seele aus dem Leib, verkrallen sich und werfen sich auf den bunten Müll seiner seltsam frivolen Kunst. Ich habe bei ihm oft das Gefühl, dass er eigentlich ein Naturforscher ist. In einer verschmierten Comics-Seligkeit. Grausam bunt, lustvoll albern. Nie nackt, aber auch nie verkleidet.

Gottfried trägt gerne Hawaiihemden. Er schaukelt mit seinem Oberkörper hin und her und gibt laute Schnalzgeräusche in das Atelier ab. Ich antworte mit meiner Lufttrompete. Ein, zwei Trompetenstöße und er kennt sich aus. Das war das Zeichen. Wir verlassen beide unseren Arbeitsplatz und treffen uns im Aufenthaltsraum, wo vier Ventilatoren Staubteilchen in der Luft aufeinander schießen. Wir quatschen Blödsinn und bilden sprachliche Assoziationsketten bis zum Abwinken und wir meinen, genug für die dadaistische Anarchie im Atelier getan zu haben. Eigentlich sollten wir jetzt mit einem kühlen Bier oder einem Aperol Spritz oder einem Campari Soda von der Caritas belohnt werden. Aber darauf können wir lange warten.

12.7.2023

 

Anna hat zwei Krapfen gekauft. Sie selbst darf sie nicht essen. Wegen ihrer Fülle. Nein, nicht wegen der Krapfenfülle, Marillenmarmelade. Sondern wegen ihrer – Annas – Körperfülle. Sie ist klein und rund, und wenn sie geht, schwankt sie wie ein Boot. Sie ist eine entzückende lachende Boje bei starkem Seegang. Sie schielt auf Florian, den Atelierleiter.
„Florian, magst du Krapfen?“
„Normalerweise schon, aber jetzt gerade nicht.“
Sie schielt auf mich. Ich freue mich, mir rinnt das Wasser im Mund zusammen. Sie fragt mich, ob ich Zeit für eine Frage habe.
„Für dich doch immer, Anna.“
„Magst du einen Krapfen?“
„Ja. Danke!“
Schnapp! In den Mund geschoben. Mmmmm. Ich lecke den Zuckerstaub von meinen Lippen. Ich liebe ihre Fülle. Die Krapfenfülle. Und die von Anna. Wegen der sie sie nicht essen darf.

„War es am Wochenende sehr heiß in deinem Heimatort?“, frage ich sie.
Sie schaut mich fragend an.
„In deinem Heimatort, wo du wohnst oder lebst?“
Sie schaut mich fragend an.
„War es dort heiß am Wochenende?“
„Da ist doch wohl ein Unterschied, wo ich wohne und wo ich lebe.“
„Wieso?“, frage ich.
„Na, du weißt doch ganz genau, dass man überall leben kann, aber nicht überall wohnen.“
Das leuchtet mir ein.
Sie richtet sich auf. „Und überhaupt … Warum sagst du, in deinem Heimatort? Du weißt doch genau, dass ich in Herzogenburg wohne.“
„Ich habe auch lange in Herzogenburg gewohnt.“
„Das weiß ich.“
„War es am Wochenende heiß dort?“
„He August. Du bist heute mühsam.“

11.7.2023

 

Helmut hat eine Privatsphäre. Die liegt unter seinem Bett. Sein Betreuer in der Wohngemeinschaft hat zu ihm gesagt: „Du hast ein Recht auf eine Privatsphäre. Und die geht niemanden etwas an. Du kannst sie verstecken. Aber du musst nicht.“ Helmut hat sich eine Privatsphäre im Internet ausgesucht. Sein Betreuer hat sie ihm besorgt. Am Geld ist es nicht gescheitert. Helmut kriegt mehr Taschengeld, als er ausgibt. Er war nicht zufrieden. Sein Betreuer hat sie zurückgeschickt. Die nächste Auswahl hat gepasst. Und passt noch immer. Helmut liebt sie. „Wie soll sie heißen?“, fragt sein Betreuer. „Privatsphäre“, sagt Helmut. Privatsphäre liegt unter seinem Bett. Oder sie steht in einer Zimmerecke. Wenn er sie vor sich haben will. Er liebt sie. Helmut ist ein geistig behinderter Künstler. Er hat ein Recht auf Liebe und Lust.
In der Corona-Pandemie hat er seiner Puppe einen Mund-Nasen-Schutz aufgesetzt. Sein Betreuer hat ihm davon abgeraten, sie impfen zu lassen. Denn dann wäre ihr die Luft ausgegangen.

10.7.2023

 

Anna schreibt Zahlen auf ein Zeichenblatt. Nein. Sie zeichnet eine endlose Wurst aus Ziffern. Ich seh ihr dabei zu.
„Warum schreibst du Zahlen auf ein Zeichenblatt?“, frag ich sie. Sie schaut mich an, als würde ich das nicht selbst wissen.
„Du bist heute wieder sehr witzig“, sagt sie und meint damit: „Du warst schon einmal witziger.“
Sie streckt mir ihre Handfläche mit nach oben gestreckten Fingern entgegen. Ich schlage ein. Sie legt den Kopf schief. Sie hat einen derart offenen Blick aus blauen Himmelaugen, dass mir ihre blonden Haare wie Sonnenstrahlen erscheinen.
Ich kenne ihren Vater. Er war Rechtsanwalt. Ich habe ihn einmal gebraucht. Ich habe ihm damals den Spitznamen „Petrocelli“ gegeben. Petrocelli war ein Anwalt in einer amerikanischen TV-Serie der 1980er Jahre. 

Ich habe früher laut geschimpft. In aller Öffentlichkeit. Ich musste das tun. Meine Ärztin sagte, das sei eine Art Tourette-Syndrom. Bei mir gespeist durch eine Angststörung. Es war meine Art von Rausch. Mit diesem Rausch überdeckte ich meine Angst. Je überforderter und ängstlicher ich war, umso mehr und lauter musste ich schimpfen. Das war nicht immer einfach für meine Umwelt. Dann gab es eine Zeit, wo ich mir ständig Zahlen merken musste. Ich musste alles in Zahlen fassen und in mir abspeichern. Ich musste alles, was ich sah, in Zahlen ausdrücken. Das ist möglich, wenn man ein System dafür findet. Vielleicht ist das der Grund dafür, warum ich mich für die Zahlen-Zeichenweise von Anna interessiere.
„Woher nimmst du die Zahlen?“, frage ich sie. Sie schaut mich nur an und sagt nichts. Alles in Zahlen zu messen, alles Zeitliche, Flächige und Räumliche. Von eins bis ins Unendliche, was ist das? Wozu soll das gut sein? Warum sagt sie mir nicht, woher sie sie nimmt?
„Schreibst du oder zeichnest du die Zahlen?“, frage ich weiter.
„Wozu soll das gut sein, deine Fragerei?“, fragt sie forsch zurück. Ihr Kopf bleibt gerade, sie legt ihn nicht auf die Seite, wie sonst so oft, wenn sie gut aufgelegt ist.
Ich bleibe unbefriedigt zurück. Sie will lieber über italienische, spanische, portugiesische, österreichische oder deutsche Fußballclubs reden. Da kennt sie sich aus. Oder über Schlagerstars. Aber das will ich nicht. Mich hätten ihre Zahlenzeichnungen interessiert. Aber was soll man machen.

29.6.2023

 

Künstlerfreund Helmut benützt keinen Zebrastreifen. Ich frage ihn, warum nicht, und er antwortet: „Ich bin einmal über einen Zebrastreifen gegangen. Die sind nicht stehen geblieben. Die haben mich fast angefahren.“
Ich frage nach: „Wo gehst du über die Straße, wenn du über eine Straße gehst?“
Er lacht. „Irgendwo.“
„Aber nicht über den Zebrastreifen.“
„Nein.“
Er will das Thema wechseln, indem er ein langes Haar findet, das aus meinem Ohr wächst. Aber ich gehe nicht darauf ein und frage ihn: „Ist dir schon einmal wirklich etwas passiert auf dem Zebrastreifen?“
„Nein. Aber die bleiben nicht stehen.“
Er kommt mir sehr nahe und redet auf mein Haar im Ohr ein. Er redet mit dem Haar, als wäre es eine eigene Persönlichkeit.
Er sagt: „Ich glaube, du bist im Stress.“
„Nein!“, rufe ich aus, „ich bin nicht im Stress! Aber du solltest Zebrastreifen benützen!“
Er hat recht. Ich bin wirklich im Stress. Ich weiß gar nicht, warum.
Helmut lächelt ungerührt und redet auf das Haar ein, das aus meinem Ohr wächst.

28.6.2023

 

Mit einem Kunstpraktikanten, einem Asylanten aus Irak, habe ich sehr viele Gespräche geführt.
Unter anderem hat er gesagt: „Ich bin von Allah zu Jesus gegangen, aber nichts hat sich gebessert.“
Ich fragte ihn: „Was hätte sich denn bessern sollen?“
„Na ja, das Leben hier. Alles.“
Ich fragte weiter, weil es mich wirklich interessierte: „Warum muss es unbedingt eine Religion sein?“
Er: „Ungläubig ist ganz schlimm. Ungläubig ist ganz unten.“
Er war ein netter junger Mann, für irakische Verhältnisse sehr liberal. Fortschrittlich, westlich eingestellt. Alle Menschen sind gleich, hat er gelernt. Aber leider fehlte ihm ein Mädchen. Er hätte sich gerne verliebt. Er schwärmte davon, wie er sich seine Freundin vorstellte. Wie sie sein sollte. Was sie alles tun dürfte und was nicht. Ich fragte ihn, was er ihr dafür geben wollte. Er wusste überhaupt nicht, was ich meinte. Also fragte ich: „Du hast genaue Vorstellungen, was sie für dich alles tun soll. Was tust du für sie?“ Er legte seine Stirn in Runzeln und antwortete: „Sie ist ein Geschenk für mich, das ich mit Respekt annehme.“
Als Künstler malte er im Stil von Jean-Michel Basquiat. Dass er vom Islam zum Christentum konvertierte, hat ihn, glaube ich, in seiner künstlerischen Entwicklung weder blockiert noch gefördert.

27.6.2023

 

Ich piepse, wie mir der Nabel gewachsen ist, sagt das Ei.

25.6.2023

 

Wenn ich nicht einmal mit meinen Freunden offen sprechen kann …

 

… werde ich es auch nicht tun.

21.6.2023

 

beim Zeichnen
trage ich
weibliche Kleidung
nach innen

 

 

auf dem Blatt
verwandeln sich Figuren
Strich für Strich
In Strichmädchen

 

14.6.2023

 

Was ist eigentlich eine Zeichnung?
Was ist ein Zeichen?
Etwas Schaubares? Lesbares? Erlebbares?

Das Leben ist Urlaub. Drei Wochen nicht an Geld denken. Sich bedienen, verwöhnen, operieren lassen. Das Leben ist Operation. Am Leib. Beim Arzt. Oder im Spital. Und an der Seele. Im Urlaub. Beim Hinausschauen aufs Meer. Beim sich sicher Fühlen. Oder auf einer Einkaufsstraße. Beim sich versorgen Lassen. Die letzten Tage vor einer Operation genießen. Das Leben in vollen Zügen genießen. Und sich dann unters Messer legen. Das Leben ist ein Messer. Das Leben ist ein Schnitt. Quer durch. Ich lerne Leute im Urlaub kennen, die dringend leben wollen. Das Leben ist Kontakt. Ein ausgedrückter Teebeutel. Grünen Tee kann man öfter als nur einmal aufgießen. Das Leben ist warten, dass der Tee auskühlt. Das Leben ist eine Bestellung. Bitte noch ein kochendes Wasser. Bitte einen frischen Teebeutel. Bitte den Beutel ausdrücken. Ein Ventilator wird aufgestellt. Ich genieße den kühlen Wind.
Am Operationstisch sitzen zwölf Apostel. Man selbst ist Jesus. Man redet mit den anderen. Das Leben ist reden. Das Leben schneidet einem den Anzug, den man trägt, vom Leib.
Worauf ich hinaus will: Jede Zeichnung ist immer auch irgendwie ein Schnittmuster des gesamten Lebens. Eine Zusammenfassung von allem bisher Erlebten. Jede Zeichnung ist ein Ausschnitt. Der Ausschnitt ist eine Reduktion auf das Ganze.

9.6.2023

 

Ohne Licht kein Werk

Das Leben ist Licht. Das Licht der Welt. Die Geburt ist ein Lichtschalter. Der für alle da ist. Jeder darf ihn benützen, der das Haus betritt.

In meinem Wohnhaus hat jemand mit einem Feuerzeug oder Zigarette den Lichtschalter beim Hauseingang beschädigt. Warum schändet jemand einen Lichtschalter? Wer tut sowas? Jemand, der wieder Feuer machen will, anstatt  einen Kippschalter zu betätigen? Jemand Rückständiger, Primitiver, der lieber im Dunkeln bleibt? Ich habe, was mein Wohnhaus betrifft, einen starken Verdacht, wer das getan haben könnte.
Ist es nicht schön, dass es Lichtschalter gibt? Ist es nicht phantastisch, dass wir nicht mehr Feuer machen müssen, um einen dunklen Raum zu erhellen? Dass wir nur auf einen kleinen Schalter drücken und es wird hell und warm?
Mit meinem Verdacht habe ich mich schwer verschätzt. Ausgerechnet die blinde Musikerin, die im zweiten Stock wohnt, drückt ihre Zigarette auf dem Lichtschalter aus. Sie kommt spätabends nachhause, betritt das Haus, und bevor sie in den Lift steigt, drückt sie ihre Zigarette an der Wand aus. Dass sie zufällig den Lichtschalter trifft, kann sie nicht sehen. Die blinde Musikerin hat eine Betreuerin. Die Betreuerin hat mir gesagt, das mit dem Lichtschalter war ein Versehen. Gewissermaßen ein blindes Versehen.

Ich bin kein erfolgreicher Künstler. Wenn man Erfolg an Verkaufszahlen misst. Sagen wir: Ich bin mäßig erfolgreich. Aber ich glaube, dass das mit mir noch was werden kann. Würde ich das nicht glauben, würd ich keinen Fuß mehr in das Atelier setzen. Irgendwie fühle ich mich auch wie ein Blinder: Ich gehe blind in das Atelier, um zu zeichnen. Habe keine Ahnung, was geschehen wird, welches Bild entstehen wird. Ich sehe nichts voraus. Ist mein heutiges Bild das eine Bild, das meinen Welterfolg begründen wird? Wer weiß …

4.6.2023

 

Ich war sehr traurig. Mehr noch: Ich war zerstört. Warum sprach mit mir keiner darüber? Was stimmte mit meiner Einstellung nicht? Warum trat niemand mit mir in Dialog? Warum wurde ich herabgewürdigt? Warum konnte jemand sagen, mit meiner Einstellung stimme etwas nicht? Warum konnte jemand meine Gefühle heruntermachen? Warum konnte mir jemand vorwerfen, etwas falsch zu machen, mich falsch auszudrücken? Warum wandten sich alle von mir ab? Ich war ob dieser Niedertracht wirklich zerstört!

Ich war bei einer kleinen Ausstellungseröffnung. Ich freute mich über die Bilder an den Wänden. Am schönsten fand ich die, worauf ich küssende Köpfe erkannte. Oder sich küssende Gesichter. Aus den verschwommenen Gesichtern formten sich Kussmünder, die kraftvoll zueinander zogen. Ich hatte den Eindruck, jeden Augenblick würden sie aufeinander treffen und sich schmatzend abschmusen. Das wäre dann der Punkt, dachte ich mir, an dem das Bild vor lauter Lust explodiert. Ich sah bereits bunte Blitze, die noch nicht zu sehen waren. Ich stand staunend, mit offenem Mund, vor dem Bild und wollte etwas sagen, aber ich stotterte. Ich merkte gar nicht, dass sich ein Grüppchen Menschen um mich gebildet hatte. Voll Entzückung rief ich aus: „Mein Gott! Ist das ein schönes Kussbild! Wer ist denn hier das Weibchen und wer das Männchen?“

Es wurde schlagartig still um mich. Das Grüppchen um mich ging auf Distanz. Einige murmelten etwas mit schiefem Blick auf mich. Eine Frau trat hervor und sagte hämisch grinsend zu mir: „Du hast aber eine hetero-normative Einstellung.“ Das hatte gereicht. Ich war plötzlich gebrandmarkt. Mit einer Einstellung, von der ich noch nie zuvor etwas gehört hatte. Die Frau hatte mich mit einer einzigen Aussage zerstört. Fast hätte sie auch noch vor mir ausgespuckt. Alle Menschen wandten sich von mir ab. Was hatte ich denn angestellt? Warum ekelte ihnen plötzlich vor mir? Was hatte ich verbrochen? Ich war der mit dieser Einstellung.

1.6.2023

 

Ein Pariser Galerist trat an mich heran und ersuchte mich, in ein paar Sätzen die Künstlerin Joesi Moser zu porträtieren. Diesem Wunsch kam ich mit großer Freude nach: „Joesi Moser ist eine ätherische Pflanze, Samen einer schwebenden Kunst in die Welt hinaustragend, Raumplanerin, Raumpflegerin. Sie ist eine österreichische Björk der bildenden Kunst. Gleichsam blind tappen ihre Finger auf der Tonleiter ätherischer Farbtupfer, in bunten Träumen blinder Hundeliebe. Die Kunst rinnt aus ihr wie eine tägliche Monatsblutung. Sie malt, zeichnet, collagiert schneller als sie atmet. Wer mit ihr in Kontakt kommt, wird zum Millionär. Was man von ihr kriegt, gibt man gleich wieder aus. Sie liest in anderen Fibeln als die Mehrheit. Ihre Hellhörigkeit stammt von Hundeohren. Sie malt die Unterwelt der Zukunft. Wasser und Luft im Stimmbruch. Licht und Erde in der Pubertät. Nur nicht erwachsen werden, sang das kleine Mädchen. Nur nicht erwachsen bleiben, singt die reife Frau. Sie ist das Feuer und das Eis, sie ist der Tag und die Nacht. Sie ist Joesi Moser. Und bleibt trotzdem ein am Knochen nagendes zerfranstes Seelenhemd.“ 
Der Pariser Galerist war sehr zufrieden mit meinem Porträt. Er gab mir 3500 Euro dafür.

18.5.2023

 

Das Leben ist ein Boot. Oder ein Schiff. Je nachdem wie bescheiden man lebt. Bei ihm, Horst, scheint es eine Nussschale zu sein. Andererseits: Hat nicht der berühmte englische Physiker im Rollstuhl gesagt, dass sich das ganze Universum in einer Nussschale befindet? Horst lebt sehr bescheiden, verzichtet auf vieles. Zum Beispiel auf Frauen. Horst sagt sich: Wenn sich das Universum in einer Nussschale befindet und mein Leben sich in einer Nussschale abspielt, wo sich auch alles andere abspielt, was es gibt … warum muss ich dann auf vieles verzichten? Ist das nicht ein völliger Blödsinn, wenn meine Betreuerin und mein Onkel sagen, dass ich nichts mit einem Mädchen anfangen soll?
Horst ist eine Zeitlang zu einer Prostituierten gegangen. In die Bücherei geht er sowieso regelmäßig. Schon lange. Dort kann man sich auch befriedigen. Horst sagt, wenn man etwas liest und man merkt es sich nicht, ist es trotzdem nicht verloren. So ähnlich drückt er sich über seine Besuche bei der Prostituierten aus: Wenn ich hingehe und es wird nichts daraus, weil es doch nicht passt, bin ich wenigstens hingegangen. Das Leben ist ein Boot. Oder ein Schiff. Je nachdem wie bescheiden man lebt. Wenn meine Betreuerin oder mein Onkel zu mir sagen, ich muss aufpassen, dass mir nicht zu viel Blödsinn einfällt, kann ich denen nur widersprechen: Ich bin Künstler. Wenn ich dauernd aufpassen würde, was ich mache und wie sehr ich es mache, wäre ich kein Künstler.           

6.5.2023

 

Manchmal verspüre ich eine Beschützerfunktion bei Helmut. Die Rolle nicht zu übernehmen, wenn sie mir zu groß wird, ist gar nicht so einfach. Helmut und ich machen uns im Atelier auf den Nachhauseweg.
Kitty und Florian spielen ihr übliches Abschiedsritual. Die winzige Kitty umarmt den baumlangen Florian. Sie löst sich von ihm und sagt: „Du bist cool.“ Er sagt: „Nein, du bist cool.“ Sie sagt: „Nein, du bist cool.“ Er: „Nein, du bist cool.“ „Nein, du bist cool.“ „Nein, du bist cool.“ Und so weiter. Das kann bis zu einer halben Stunde dauern. Nach ungefähr 12 Minuten hören sie auf zu lachen und werden zu Robotern, die die Szene weiterspielen, als hätte sich Künstliche Intelligenz dazwischengeschaltet. Mir gefällt das, obwohl ich manchmal Angst habe, dass einer der beiden, Florian oder Kitty, wirklich zur Maschine geworden ist. Man kennt das ja: Wenn man etwas zu oft wiederholt, kriegt es eine gespenstische Eigendynamik.
Wir, Helmut und ich, gehen zum Reumannplatz und steigen in die U-Bahn. Helmut setzt sich nie hin. Er steht lieber. Und beobachtet. Man weiß nie, ob sein Gesicht ängstlich dreinschaut oder lächelt. Halb halb. Manchmal zieht es sich mehr ins Ängstliche. Manchmal ins Lächelnde. Diesmal bleiben seine Augen auf dem Popo einer jungen Frau kleben. Er starrt hin, als hätte er noch nie so etwas gesehen. Die Frau trägt hautenge weiße Leggins. Und natürlich muss er diesem Anblick sehr laut Ausdruck verleihen. „Du, August, die Frauen tragen oft so Hosen, wo man alles sieht.“ Ich mache: „Psst! Helmut, nicht so laut.“ „Ja, aber die Frauen tragen oft solche Hosen, wo man alles durchsieht.“ „Hör auf so zu reden, Helmut, das tut man nicht.“ „Aber siehst du das nicht? Bei der Frau sieht man genau –“ Ich fahre ihm über den Mund. Ich stelle mich vor ihn. Das heißt, ich stelle mich zwischen Helmut und den Partner der Frau, der leider auch aufgetaucht ist und uns böse anschaut. Helmut sagt: „Ich hab ja nur gemeint.“ „Ja, aber seine Meinung muss man manchmal für sich behalten.“ „Die Meinung darf man sagen.“ „Und die Frau darf anziehen, was sie will. Schluss!“ In solchen Momenten nehme ich mir vor, Helmut außerhalb des Ateliers nicht wieder zu begleiten. Nicht, weil ich ihm böse bin, sondern weil ich schlicht und einfach nicht sein Beschützer sein will. Mir fällt der Ausspruch ein: „Man schützt, was man besitzt.“ Ich besitze Helmut nicht. Ich bin ja häufig nicht  einmal im Besitz meiner eigenen fünf Sinne. Das heißt, ich muss auf mich selbst achten. Ich liebe es, Spaß mit Helmut zu haben. Den Stress mag ich nicht.  

30.4.2023

 

Es kommt nicht immer was zurück. Kitty bemalt einen riesigen Lampenschirm einer Stehlampe. Sie kriecht fast zur Gänze in ihn hinein. Bekritzelt ihn innen. Sie liegt auf ihrem Arbeitstisch. Der Lampenschirm um sie herum wie ein riesiges Rohr. Das einen künstlerischen Anstrich verpasst bekommt. Ästhetisch betrachtet ein Wahnsinnsanblick. Kittys Kopf, Schultern und der halbe Oberkörper sind im Schirm verschwunden.
Ich sage: „Kitty! Steckst du fest?“
Sie antwortet knapp: „Nein.“
„Soll ich dir helfen?“
Knappe Antwort: „Nein.“
Ich gehe ans obere Ende des Lampenschirms, wo fast ihr Gesicht herausguckt und bemerke die rote Farbe um ihren Mund.
Ich frage sie: „Hast du mittags Spaghetti gehabt?“
Sie, knapp: „Ja.“
Ich: „Bist du satt geworden?“
„Ja.“
Ich: „Ist das ein Lampenschirm, den du da bemalst?“
„Ja.“
„Willst du herauskommen und ein bisschen quatschen mit mir?“
Kurze Pause, dann: „Nein.“
Ich bleibe noch eine Minute schweigend bei ihr stehen. Sie bemalt den Lampenschirm nicht. Sie bewohnt ihn. Ich glaube, sie schläft sogar da drin. Mittagsschläfchen.
Vor einigen Wochen hat der Papa von Kitty öffentlich aus meinem neuen Buch gelesen. Übrigens gemeinsam mit unserem Atelierleiter Florian. War eine prächtige Performance. Der Papa von Kitty ist ein Wiener Burgtheaterschauspieler. Er ist zwar Deutscher. Aber das ist ja kein Nachteil am Burgtheater.
Ich sage zu Kitty im Lampenschirm: „Richtest du deinem Papa einen schönen Gruß von mir aus?“
„ …… “
„Tust du das?“
Sie, knapp: „Ja.“    

24.4.2023

 

Die Menschen tun ja manchmal so, als wären sie die Subjekte und die Behinderten ihre Objekte. Aber vielleicht ist es umgekehrt: Vielleicht sind die Behinderten die Subjekte und die Normalen ihre Objekte?
Das wäre spannend herauszufinden.

Deutungshoheit. Bevor mich im Atelier jemand fragt, ob ich auch ein Künstler mit Behinderung bin, sage ich es selbst: Dass ich ein Künstler mit Behinderung bin. Das wäre eine Möglichkeit, eine sonst peinliche Klassifizierung vorwegzunehmen. (Man kann statt Behinderung auch Diagnose sagen.) Wenn mich ein Journalist, der einen Beitrag über mein neues Buch macht, fragt, welche Rolle die Angst bei mir spielt, antworte ich ihm ohne Umschweife, dass mich die Angst in die Psychiatrie gebracht hat. Wenn die Deutungshoheit bei mir liegt, bestimme ich selbst den Grad meiner Durchschaubarkeit. Ich erkläre gerne, wie ich als Künstler die Welt sehe. Aber genauso gern hätte ich, dass mich die Welt sieht, wie ich es will. 

Mit meinem lieben Atelierkollegen Horst rede ich gern über meine Bücher und, daraus zwangsläufig folgernd, über Metaphern. Ich glaube nicht, dass er weiß, was Metaphern sind. Trotzdem produziert er häufig welche. Es entstehen die wildesten Wortverdrehungen dabei.
Ich frage ihn: „Horst, wer macht die besten Behindertenwitze? Ein Mensch mit Behinderung, ein Mensch ohne Behinderung oder ein Mensch ohne Witz.“
Er schaut mich durch seine dicke Brille und mit dem Oberkörper vor- und zurückwippend an und fragt, was das denn für eine verrückte Frage sei.
„Aber Horst“, sage ich weiter, „machst du dich nicht gern über dich selbst lustig? Lachst du nicht gern über dich selbst?“

Das Schöne an der Kunst ist, dass man als Künstler sowieso unter dem Verdacht steht, zumindest ein bisschen verrückt zu sein. Man müsste also die Behinderung gar nicht extra erwähnen. Anders gesagt: Die Behinderung macht den Künstler nicht noch interessanter, höchstens erbarmungswürdiger, wenn er so und so keinen Erfolg hat.

16.4.2023

 

Künstlerkollege Helmut baut sich seine eigene Welt, die großteils aus Lego und Playmobil besteht. Er baut alles, was es in der großen realen Welt gibt, in seiner kleinen Plastikwelt nach. Das heißt, nicht alles, sondern nur, wovon er überzeugt ist, es auch zu brauchen. Helmut hat regelmäßig Austausch mit einer Tischlerwerkstatt gepflegt. Bald gibt es diese Tischlerwerkstatt nicht mehr. Helmut ist unendlich traurig.
Wir sitzen im Aufenthaltsraum und er klagt mir sein Leid.
„Die Tischlerwerkstatt sperrt zu. Warum?“
„Ich weiß es nicht, Helmut.“
„Die zwei Tischler haben sich zerstritten.“
Ich frage ihn: „Wegen was?“
Er antwortet: „Wahrscheinlich wegen einer Frau.“
Ich: „Wegen einer Frau?“
Er: „Ja, wegen einem Möbel.“
Es entsteht eine Pause, weil ich seinem Sprung von Frau auf Möbel erst folgen muss.
Ich sage: „Wahrscheinlich wegen einem schönen Stuhl.“
Er sagt: „Ja. Jetzt sperren sie zu.“
Ich: „Das ist tragisch.“
Er: „Und die ganze Schönheit wird weggeschmissen.“
Ich: „Es wird so viel Schönheit weggeschmissen.“
Er: „Oder auf den Flohmarkt.“
Ich: „Dort ist alles billig.“
Er: „Aber genauso schön.“
Ich liebe Helmut für diese Art Gespräche. Wir plaudern öfter über Liebe und Schönheit. Er hat die gleichen Bedürfnisse wie jeder Mann in seinem Alter.
Nachher, als Helmut längst gegangen ist, stehe ich immer noch da, blicke ans andere Ende des Ateliers und denke: Auf dem Flohmarkt des Lebens ist alles billig. Aber genauso wertvoll.

9.4.2023

 

Patricks Tag im Atelier ist der Mittwoch. Er kommt aber, wie es ihm passt, mal Donnerstag, mal Dienstag. Das darf er aber nicht. Erstens muss er Vereinbarungen einhalten und zweitens sind die meisten Arbeitstische täglich an verschiedene Künstler vergeben. An ihn eben nur mittwochs. Auch wenn er am falschen Tag kommt, geht er laut murmelnd und rülpsend schnurstracks zu seinem Arbeitsplatz und, falls er gerade frei ist, setzt sich hin und fängt zu zeichnen an. Unser Leiter, der Florian, geht zu ihm und sagt ihm freundlich, dass er heute nicht hier sein darf. Mittwoch sei sein Tag. Patrick schaut ihn mit großen Augen an und murmelt, für seine Begriffe völlig verständlich, dass er kein Verständnis habe und auch keine Zeit für solche Kindereien wie richtiger Tag oder falscher Tag. Er sei hier, um Kunst zu machen. Und er wolle möglichst wenig dabei gestört werden, und wenn, dann nicht mit solch lächerlichen Kleinigkeiten.
Patrick zeichnet wunderschöne bunte Bilder von Häusern und Straßen. Ein Bild beinhaltet mindestens zehn verschiedene Perspektiven. Häuser stehen gerade, Häuser geraten in Schieflage, Häuser purzeln durcheinander, Straßen fahren kerzengerade in den letzten Stock eines zehnstöckigen Hauses. Er gibt sich große Mühe mit den Farbstiften, während seine Zunge manchmal bis zum Zeichenblatt heraushängt.
Florian gibt es auf, Patrick von seiner nicht berechtigten Anwesenheit im Atelier zu überzeugen, kommt zu mir und bittet um meine Mithilfe. Sein Plan: Wir warten, bis Patrick in die Küche geht, um sich einen Kaffee zu holen. Ich laufe blitzschnell nach hinten, nehme an Patricks Tisch Platz und zeichne dort an meinem Blatt weiter. Gesagt, getan. Der Plan geht auf. Patrick kommt mit seiner Kaffeetasse zurück und sieht, dass sein Platz besetzt ist. Nämlich von mir. Florian steht auch da und erklärt Patrick die Lage: „Siehst du, heute ist nicht dein Tag, heute sitzt jemand anders hier. Dein Tag ist morgen, Mittwoch.“ Patrick murmelt, grummelt und grunzt ein wenig enttäuscht, blickt auf mich, auf Florian, auf mein Zeichenblatt. Auf einmal spüre ich, dass er versteht. Er zeigt auf mich, auf meine Zeichnung und scheint zu fragen: Und wo ist meine Zeichnung? „Du bist heute nicht hier, Patrick“, wiederholt Florian, „du bist morgen hier.“ Patrick dreht um und geht. Er setzt sich in den Aufenthaltsraum und denkt, genüsslich Kaffee schlürfend, laut darüber nach, was gerade passiert ist.

4.4.2023

 

Kollege Patrick kann nicht reden. Das heißt, er kann schon, aber nicht wie es üblicherweise getan wird. Er hat seine eigene Sprache, die aus gegrunzten, gefauchten, gezischten, gerülpsten Kehllauten besteht. Er redet viel. Vor allem, wenn er im Aufenthaltsraum sitzt, isst oder seinen Kaffee trinkt. Ich sitze gern bei ihm, höre ihn mir an und manchmal „spreche“ ich auch mit ihm. Ich in meiner Sprache, der Sprache der Normalos, er in seiner Sprache. Er hat das Down-Syndrom. Ich merke sofort, wenn ihn etwas bewegt. Dann zieht er seine Augenbrauen noch höher, grinst noch breiter, seine Stimme kriegt einen meterdicken Raspel-Belag. Und es ist schon passiert, dass ich plötzlich weiß, was er meint, dass ich ihn mit einem Mal verstehe. Ich muss lachen, lasse ein lang gedehntes „Ahaaaa“ vom Stapel. Er lehnt sich zurück und nickt kurz mit lang heraushängender Zunge zufrieden, als wolle er sagen: Na eben, endlich kapierst du. Was heißt, als wolle er es sagen? Er sagt es ja. Ich verstehe ihn. Ich verstehe seine Sprache, ihre Form, wie auch den Inhalt. Der Inhalt ist braun und war eben noch heiß. Er hebt seine Kaffeetasse. „Ich weiß, was du willst“, sage ich zu ihm, „du willst endlich, dass man dich versteht.“ Kaum gesagt, komme ich mir vor wie ein Klugscheißer. Wie einer, der sich auf Behinderte einlässt, weil das irgendwie auch cool ist und man von seiner Umgebung dafür geachtet wird. Immer wieder falle ich auf das Bedürfnis nach einem Schulterklopfen aus gewissen Kreisen herein. Aber das will ich nicht mehr. Ich sitze bei Patrick, weil ich bei Patrick sitzen will. Und er sitzt bei mir. Was er von mir will, kann er mir ja sagen, auf seine Art. Im Übrigen bin ich keiner von Außen, sondern selbst einer mit einer gewissen Einschränkung. Sonst wäre ich ja nicht hier, im wunderbaren Atelier 10, um Kunst zu machen. Auf meine Art. In meiner Sprache.

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